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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Speiseetat. sondern nur als eine in concreten Fällen bei gehöriger Indivi-
dualisirung anzuwendende Diätform" einzuführen sei. "Auf diese Weise,"
meint er, "w'rd den Einwürfen, die man gegen die Verbesserung der Gefangenen¬
kost überhaupt macht, am leichtesten begegnet. Man soll die Kost im Straf¬
hause nicht besser einrichten, als sie der arme, redliche, freie Arbeiter in der
Fabrik oder auf dem Lande genießt." Diese Einwürfe können uns indeß
nicht bestimmen, der Ansicht von Baer beizupflichten. Abgesehen davon, daß
die Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Lande nicht denjenigen gesundheits¬
schädlichen Momenten ausgesetzt sind, welche in den Strafanstalten obwalten,
erachten wir es nicht für zweckmäßig, daß man die Gefangenen bei der üblichen,
in breiiger Form dargereichten, einförmigen reizlosen Pflanzenkost belasse und
die gemischte Kost (mit Fleisch) ihnen so lange versage, bis ein augenfälliges
Heruntergekommensein zu der Gewährung der letzteren antreibt.

Die Gefangenen werden so sehr auf den Genuß des Brotes angewiesen,
daß wir ein besonderes Gewicht auf dessen zweckmäßige Beschaffenheit legen
müssen. Den in den Gefängnissen üblichen reichlichen Zusatz von Kleie zu
dem Brote möchte ich sehr einschränken. Solches Commisbrot setzt eine kräf¬
tige Verdauung voraus, während diese bei den Gefangenen gewöhnlich ge¬
schwächt ist. Das Commisbrot muthet ihren Verdauungsorganen eine An¬
strengung zu, welcher sie nicht genügen können, erzeugt deshalb leicht Ver¬
dauungsstörungen, geht großenteils unverdaut ab und veranlaßt häufige
Stuhlentleerungen, in denen es einen Theil des von anderen Speisen her¬
rührenden Darminhaltes vorzeitig, d. h. ebenfalls unverdaut mit fortreißt und
der Ernährung entzieht.

Eine Verbesserung der in den Gefängnissen üblichen Beköstigung halte
ich in dem Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege für unerläßlich. Die
in breiiger Form dargereichte, einförmige, reizlose Pflanzenkost erzeugt bei
vielen Gefangenen Ueberdruß, selbst Ekel, sodaß sie nur mit Aufbietung aller
Willenskraft das Essen hinabschlucken. Auf Rechnung jener Beköstigung werden
wir das so häufige Vorkommen von Verdauungsstörungen setzen müssen, ebenso
die Abmagerung, Entkräftung und Blutverarmung der Gefangenen. Diese
Blutverarmung führt Siechthum herbei, hat einen wesentlichen Antheil an der
Schwindsucht und Wassersucht, welche so viele Gefangene hinrafft, und be¬
dingt bei andern durch Scrofelsucht, durch Scorbut u. s. w. eine Gesundheits¬
schädigung, welche bei den aus der Haft Entlassener nicht wieder gut gemacht
werden kann.

Die Behandlung der Gefangenen wird den Ansprüchen der öffentlichen
Gesundheitspflege dann gerecht werden, wenn sie der Vorbereitung dient, welche
den aus der Hast Entlassener befähigen soll, durch ehrlichen Erwerb in ge-


Speiseetat. sondern nur als eine in concreten Fällen bei gehöriger Indivi-
dualisirung anzuwendende Diätform" einzuführen sei. „Auf diese Weise,"
meint er, „w'rd den Einwürfen, die man gegen die Verbesserung der Gefangenen¬
kost überhaupt macht, am leichtesten begegnet. Man soll die Kost im Straf¬
hause nicht besser einrichten, als sie der arme, redliche, freie Arbeiter in der
Fabrik oder auf dem Lande genießt." Diese Einwürfe können uns indeß
nicht bestimmen, der Ansicht von Baer beizupflichten. Abgesehen davon, daß
die Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Lande nicht denjenigen gesundheits¬
schädlichen Momenten ausgesetzt sind, welche in den Strafanstalten obwalten,
erachten wir es nicht für zweckmäßig, daß man die Gefangenen bei der üblichen,
in breiiger Form dargereichten, einförmigen reizlosen Pflanzenkost belasse und
die gemischte Kost (mit Fleisch) ihnen so lange versage, bis ein augenfälliges
Heruntergekommensein zu der Gewährung der letzteren antreibt.

Die Gefangenen werden so sehr auf den Genuß des Brotes angewiesen,
daß wir ein besonderes Gewicht auf dessen zweckmäßige Beschaffenheit legen
müssen. Den in den Gefängnissen üblichen reichlichen Zusatz von Kleie zu
dem Brote möchte ich sehr einschränken. Solches Commisbrot setzt eine kräf¬
tige Verdauung voraus, während diese bei den Gefangenen gewöhnlich ge¬
schwächt ist. Das Commisbrot muthet ihren Verdauungsorganen eine An¬
strengung zu, welcher sie nicht genügen können, erzeugt deshalb leicht Ver¬
dauungsstörungen, geht großenteils unverdaut ab und veranlaßt häufige
Stuhlentleerungen, in denen es einen Theil des von anderen Speisen her¬
rührenden Darminhaltes vorzeitig, d. h. ebenfalls unverdaut mit fortreißt und
der Ernährung entzieht.

Eine Verbesserung der in den Gefängnissen üblichen Beköstigung halte
ich in dem Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege für unerläßlich. Die
in breiiger Form dargereichte, einförmige, reizlose Pflanzenkost erzeugt bei
vielen Gefangenen Ueberdruß, selbst Ekel, sodaß sie nur mit Aufbietung aller
Willenskraft das Essen hinabschlucken. Auf Rechnung jener Beköstigung werden
wir das so häufige Vorkommen von Verdauungsstörungen setzen müssen, ebenso
die Abmagerung, Entkräftung und Blutverarmung der Gefangenen. Diese
Blutverarmung führt Siechthum herbei, hat einen wesentlichen Antheil an der
Schwindsucht und Wassersucht, welche so viele Gefangene hinrafft, und be¬
dingt bei andern durch Scrofelsucht, durch Scorbut u. s. w. eine Gesundheits¬
schädigung, welche bei den aus der Haft Entlassener nicht wieder gut gemacht
werden kann.

Die Behandlung der Gefangenen wird den Ansprüchen der öffentlichen
Gesundheitspflege dann gerecht werden, wenn sie der Vorbereitung dient, welche
den aus der Hast Entlassener befähigen soll, durch ehrlichen Erwerb in ge-


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[0301] Speiseetat. sondern nur als eine in concreten Fällen bei gehöriger Indivi- dualisirung anzuwendende Diätform" einzuführen sei. „Auf diese Weise," meint er, „w'rd den Einwürfen, die man gegen die Verbesserung der Gefangenen¬ kost überhaupt macht, am leichtesten begegnet. Man soll die Kost im Straf¬ hause nicht besser einrichten, als sie der arme, redliche, freie Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Lande genießt." Diese Einwürfe können uns indeß nicht bestimmen, der Ansicht von Baer beizupflichten. Abgesehen davon, daß die Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Lande nicht denjenigen gesundheits¬ schädlichen Momenten ausgesetzt sind, welche in den Strafanstalten obwalten, erachten wir es nicht für zweckmäßig, daß man die Gefangenen bei der üblichen, in breiiger Form dargereichten, einförmigen reizlosen Pflanzenkost belasse und die gemischte Kost (mit Fleisch) ihnen so lange versage, bis ein augenfälliges Heruntergekommensein zu der Gewährung der letzteren antreibt. Die Gefangenen werden so sehr auf den Genuß des Brotes angewiesen, daß wir ein besonderes Gewicht auf dessen zweckmäßige Beschaffenheit legen müssen. Den in den Gefängnissen üblichen reichlichen Zusatz von Kleie zu dem Brote möchte ich sehr einschränken. Solches Commisbrot setzt eine kräf¬ tige Verdauung voraus, während diese bei den Gefangenen gewöhnlich ge¬ schwächt ist. Das Commisbrot muthet ihren Verdauungsorganen eine An¬ strengung zu, welcher sie nicht genügen können, erzeugt deshalb leicht Ver¬ dauungsstörungen, geht großenteils unverdaut ab und veranlaßt häufige Stuhlentleerungen, in denen es einen Theil des von anderen Speisen her¬ rührenden Darminhaltes vorzeitig, d. h. ebenfalls unverdaut mit fortreißt und der Ernährung entzieht. Eine Verbesserung der in den Gefängnissen üblichen Beköstigung halte ich in dem Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege für unerläßlich. Die in breiiger Form dargereichte, einförmige, reizlose Pflanzenkost erzeugt bei vielen Gefangenen Ueberdruß, selbst Ekel, sodaß sie nur mit Aufbietung aller Willenskraft das Essen hinabschlucken. Auf Rechnung jener Beköstigung werden wir das so häufige Vorkommen von Verdauungsstörungen setzen müssen, ebenso die Abmagerung, Entkräftung und Blutverarmung der Gefangenen. Diese Blutverarmung führt Siechthum herbei, hat einen wesentlichen Antheil an der Schwindsucht und Wassersucht, welche so viele Gefangene hinrafft, und be¬ dingt bei andern durch Scrofelsucht, durch Scorbut u. s. w. eine Gesundheits¬ schädigung, welche bei den aus der Haft Entlassener nicht wieder gut gemacht werden kann. Die Behandlung der Gefangenen wird den Ansprüchen der öffentlichen Gesundheitspflege dann gerecht werden, wenn sie der Vorbereitung dient, welche den aus der Hast Entlassener befähigen soll, durch ehrlichen Erwerb in ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/301>, abgerufen am 22.07.2024.