Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.die Unterstützungsfrage der verlassenen Kinder hier auftauchte, wie die anderen Das Foundling-Hospital zu London ist das Werk eines Schiffseapitäns, Grenzboten II. 1872. 29
die Unterstützungsfrage der verlassenen Kinder hier auftauchte, wie die anderen Das Foundling-Hospital zu London ist das Werk eines Schiffseapitäns, Grenzboten II. 1872. 29
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die Unterstützungsfrage der verlassenen Kinder hier auftauchte, wie die anderen
germanischen Völker entscheiden. Das ist der Grund, warum es eine der
deutschen analoge Gesetzgebung schuf, welche die Frau gegen den Mann
vertheidigte, und diesen letzteren für seine Acte und deren Konsequenzen
verantwortlich machte, warum es serner die Findelhäuser als unnütz, unlo¬
gisch, ungerecht verwarf, da diese allen Gliedern der Gemeinde die Last der
Fehltritte aufbürden, die nur von diesem oder jenem ihrer Mitglieder getragen
werden sollte. Die Findelhäuser konnten sich also nur im Gegensatz zu den
socialen Doctrinen des englischen Volks erhalten, als eine fremde Nachbildung,
welche fortwährend kränkelte, statt zu gedeihen.
Das Foundling-Hospital zu London ist das Werk eines Schiffseapitäns,
Namens Thomas Coram; es wurde 1739 gegründet und die erste Aufnahme
von Kindern fand im Jahre 1740 statt. Des Gründers Absicht war, in der
Anstalt alle Kinder aufzunehmen, die derselben präsentirt, oder auf der
Straße ausgesetzt ausgefunden würden. siebenzehn lange Jahre mühte er
sich ab, das zur Gründung des Hauses nöthige Capital aufzubringen. Als
es endlich in Hatton Gartens, von wo es 1754 nach dem jetzigen Standort
Guilfort Street verlegt wurde, erstand, sah sich der Verwaltungsrath ge¬
nöthigt, ein System von Beschränkungen aufzustellen, das in directen Wider¬
spruch mit den wohlbekannten Ansichten des Capitäns Coram stand. Ob¬
gleich der Gründer protestirte, wurde dasselbe dennoch aufrecht erhalten und
dieser, in seiner Eigenliebe beleidigt, reichte seine Entlassung ein. - Das Pro-
ject Coram's erlitt also in dem Augenblick Schiffbruch, wo es im Hafen an¬
kam. Er wollte die Zulassung einer unbeschränkten Anzahl. Die Zahl
wurde auf 20 festgestellt. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren,
klebte man an die Thür des Hauses am 26. Oetober 1740 folgende Bekannt¬
machung an: „Morgen Abend um 8 Uhr wird dies Haus zur Aufnahme
von 20 Kindern geöffnet werden und zwar unter folgenden Bedingungen."
Diese Bedingungen waren, daß das Kind nicht älter als zwei Monate sein,
noch mit irgend einer ansteckenden Krankheit, noch mit Epilepsie behaftet sein
durfte. Man hatte eine Glocke zu läuten und so lange zu warten, bis die
Besichtigung vorüber und das Kind zurückgegeben oder eine Bescheinigung
über dessen Empfang verabreicht war. Keine Frage sollte an die Bürger ge¬
richtet werden, nur wurden sie eingeladen, für den Fall einer späteren Zurück-
forderung. dem Kinde ein Schriftstück oder sonst ein Zeichen anzuheften. Eins
der ersten Uebel, das diese begrenzte Zulassung zu Tage förderte, war, daß
sich an den Empfangstagen eine viel größere Menge von Applicanten mel¬
dete als Zulassungen stattfanden. Dies gab zu den widerwärtigsten Scenen
unter den Frauen Veranlassung, welche die Wohlthat des Asyls beanspruchten.
Um diesem Uebelstande abzuhelfen griff man zu einer Art von Lotterie. Man
Grenzboten II. 1872. 29
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