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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Bis jetzt hat die liberale Partei in der II. Kammer diese Probe ziemlich
glücklich bestanden. Sie ist im Nothwendigen fest, in minder wesentlichen
Dingen nachgiebig gewesen, sie hat die von ihr durchberathenen Regierungs¬
vorlagen in wichtigen Punkten verbessert, ohne daß doch die Regierung oder
I. Kammer sie nach dieser Umgestaltung mit Recht für unannehmbar er¬
klären könnten. Die Hauptprobe freilich steht ihr noch bevor: das Vereini¬
gungsverfahren mit der I. Kammer. D cum das sächsische Herrenhaus wird
leider fast mit Gewißheit an dem Volksschulgesetz, an der Gemeindeordnung
und die übrigen von der liberalen Partei unmöglich aufzugebenden Aenderungs-
anträge verwerfen, und damit diese Gesetzentwürfe in die ursprüngliche oder
eine gar noch ungenügendere Form zurückbilden wollen. Dann erst wird man
sehen, ob es wirklich eine compacte liberale Partei in der II. Kammer gibt,
oder nur eine Anzahl ganz und halb Liberaler, von denen die Einen Stand
halten, die Andern zurückweichen oder ins Schwanken gerathen. Dann erst
wird sich die Einsicht, die -Energie, die moralische Macht der Führer über das
Gros der Partei bewähren müssen.

Wir wollen hoffen, daß die liberale Partei diese Probe nicht unrühmlich
bestehen werde. Denn viel ist schon dadurch gegen früher gewonnen, daß die
Partei diesmal vom Anbeginn an als einige, statt als dreitheilige aufgetreten
ist. Die einzelnen bis dahin getrennten Fractionen haben mit lobenswerther
Selbstverleugnung ihrer Sonderstellung entsagt, um ein einziges compactes
Ganzes zu bilden. Die "Fusion" soll nicht ohne vorherige ziemlich entschie¬
dene Auseinandersetzung von Statten gegangen sein, wie ja auch chemische
Verschmelzungsprocesse häufig nur nach vorausgegangenen Explosionen und
Verdichtungen sich vollziehen. Aber einmal zu Stande gekommen, hat sie bis
jetzt auch Stand gehalten, und von einem Wiederhervortreten der früheren
trennenden Schranken, vollends von gegenseitigen Reibungen der einzelnen
Theilparteien hat sich keine Spur gezeigt.

Die in diesen Tagen eintretende Vertagung, welche die Arbeiten der
Kammern auf viele Monate, wahrscheinlich bis zum November, unterbricht,
ist für die liberale Partei nicht ungünstig. Der Einfluß eines länger an¬
dauernden Aufenthaltes in der Residenz hat sich immer als gefährlich für
manche Charaktere oder vielmehr Halbcharaktere erwiesen. Jetzt werden die ein¬
zelnen Abgeordneten aus der beengenden Hofluft der Salons und Cercles
wieder in frischeren Zug der allgemeinen Atmosphäre des Volkes hinaus¬
treten, wieder in persönliche Berührung mit ihren Wählern kommen. Sie
werden direct und durch keinen anderen Eindruck abgeschwächt deren Wünsche
und Ansichten hören. Und sie werden daher bei ihrem Wiederzusammentritt im
Winter muthmaßlich unter dem unmittelbaren, noch nicht abgeschwächten Ein-


Grenzbotm II. 1872. 20

Bis jetzt hat die liberale Partei in der II. Kammer diese Probe ziemlich
glücklich bestanden. Sie ist im Nothwendigen fest, in minder wesentlichen
Dingen nachgiebig gewesen, sie hat die von ihr durchberathenen Regierungs¬
vorlagen in wichtigen Punkten verbessert, ohne daß doch die Regierung oder
I. Kammer sie nach dieser Umgestaltung mit Recht für unannehmbar er¬
klären könnten. Die Hauptprobe freilich steht ihr noch bevor: das Vereini¬
gungsverfahren mit der I. Kammer. D cum das sächsische Herrenhaus wird
leider fast mit Gewißheit an dem Volksschulgesetz, an der Gemeindeordnung
und die übrigen von der liberalen Partei unmöglich aufzugebenden Aenderungs-
anträge verwerfen, und damit diese Gesetzentwürfe in die ursprüngliche oder
eine gar noch ungenügendere Form zurückbilden wollen. Dann erst wird man
sehen, ob es wirklich eine compacte liberale Partei in der II. Kammer gibt,
oder nur eine Anzahl ganz und halb Liberaler, von denen die Einen Stand
halten, die Andern zurückweichen oder ins Schwanken gerathen. Dann erst
wird sich die Einsicht, die -Energie, die moralische Macht der Führer über das
Gros der Partei bewähren müssen.

Wir wollen hoffen, daß die liberale Partei diese Probe nicht unrühmlich
bestehen werde. Denn viel ist schon dadurch gegen früher gewonnen, daß die
Partei diesmal vom Anbeginn an als einige, statt als dreitheilige aufgetreten
ist. Die einzelnen bis dahin getrennten Fractionen haben mit lobenswerther
Selbstverleugnung ihrer Sonderstellung entsagt, um ein einziges compactes
Ganzes zu bilden. Die „Fusion" soll nicht ohne vorherige ziemlich entschie¬
dene Auseinandersetzung von Statten gegangen sein, wie ja auch chemische
Verschmelzungsprocesse häufig nur nach vorausgegangenen Explosionen und
Verdichtungen sich vollziehen. Aber einmal zu Stande gekommen, hat sie bis
jetzt auch Stand gehalten, und von einem Wiederhervortreten der früheren
trennenden Schranken, vollends von gegenseitigen Reibungen der einzelnen
Theilparteien hat sich keine Spur gezeigt.

Die in diesen Tagen eintretende Vertagung, welche die Arbeiten der
Kammern auf viele Monate, wahrscheinlich bis zum November, unterbricht,
ist für die liberale Partei nicht ungünstig. Der Einfluß eines länger an¬
dauernden Aufenthaltes in der Residenz hat sich immer als gefährlich für
manche Charaktere oder vielmehr Halbcharaktere erwiesen. Jetzt werden die ein¬
zelnen Abgeordneten aus der beengenden Hofluft der Salons und Cercles
wieder in frischeren Zug der allgemeinen Atmosphäre des Volkes hinaus¬
treten, wieder in persönliche Berührung mit ihren Wählern kommen. Sie
werden direct und durch keinen anderen Eindruck abgeschwächt deren Wünsche
und Ansichten hören. Und sie werden daher bei ihrem Wiederzusammentritt im
Winter muthmaßlich unter dem unmittelbaren, noch nicht abgeschwächten Ein-


Grenzbotm II. 1872. 20
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[0161] Bis jetzt hat die liberale Partei in der II. Kammer diese Probe ziemlich glücklich bestanden. Sie ist im Nothwendigen fest, in minder wesentlichen Dingen nachgiebig gewesen, sie hat die von ihr durchberathenen Regierungs¬ vorlagen in wichtigen Punkten verbessert, ohne daß doch die Regierung oder I. Kammer sie nach dieser Umgestaltung mit Recht für unannehmbar er¬ klären könnten. Die Hauptprobe freilich steht ihr noch bevor: das Vereini¬ gungsverfahren mit der I. Kammer. D cum das sächsische Herrenhaus wird leider fast mit Gewißheit an dem Volksschulgesetz, an der Gemeindeordnung und die übrigen von der liberalen Partei unmöglich aufzugebenden Aenderungs- anträge verwerfen, und damit diese Gesetzentwürfe in die ursprüngliche oder eine gar noch ungenügendere Form zurückbilden wollen. Dann erst wird man sehen, ob es wirklich eine compacte liberale Partei in der II. Kammer gibt, oder nur eine Anzahl ganz und halb Liberaler, von denen die Einen Stand halten, die Andern zurückweichen oder ins Schwanken gerathen. Dann erst wird sich die Einsicht, die -Energie, die moralische Macht der Führer über das Gros der Partei bewähren müssen. Wir wollen hoffen, daß die liberale Partei diese Probe nicht unrühmlich bestehen werde. Denn viel ist schon dadurch gegen früher gewonnen, daß die Partei diesmal vom Anbeginn an als einige, statt als dreitheilige aufgetreten ist. Die einzelnen bis dahin getrennten Fractionen haben mit lobenswerther Selbstverleugnung ihrer Sonderstellung entsagt, um ein einziges compactes Ganzes zu bilden. Die „Fusion" soll nicht ohne vorherige ziemlich entschie¬ dene Auseinandersetzung von Statten gegangen sein, wie ja auch chemische Verschmelzungsprocesse häufig nur nach vorausgegangenen Explosionen und Verdichtungen sich vollziehen. Aber einmal zu Stande gekommen, hat sie bis jetzt auch Stand gehalten, und von einem Wiederhervortreten der früheren trennenden Schranken, vollends von gegenseitigen Reibungen der einzelnen Theilparteien hat sich keine Spur gezeigt. Die in diesen Tagen eintretende Vertagung, welche die Arbeiten der Kammern auf viele Monate, wahrscheinlich bis zum November, unterbricht, ist für die liberale Partei nicht ungünstig. Der Einfluß eines länger an¬ dauernden Aufenthaltes in der Residenz hat sich immer als gefährlich für manche Charaktere oder vielmehr Halbcharaktere erwiesen. Jetzt werden die ein¬ zelnen Abgeordneten aus der beengenden Hofluft der Salons und Cercles wieder in frischeren Zug der allgemeinen Atmosphäre des Volkes hinaus¬ treten, wieder in persönliche Berührung mit ihren Wählern kommen. Sie werden direct und durch keinen anderen Eindruck abgeschwächt deren Wünsche und Ansichten hören. Und sie werden daher bei ihrem Wiederzusammentritt im Winter muthmaßlich unter dem unmittelbaren, noch nicht abgeschwächten Ein- Grenzbotm II. 1872. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/161>, abgerufen am 22.12.2024.