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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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rathungen abwarten." Damals stand der hiesige Landtag noch in seinen An¬
fängen. Jetzt steht er zwar noch nicht ganz am Ende seiner Berathungen.
Aber er hat doch seitdem ein gut Stück Wegs zurückgelegt, und ist -- ich
spreche hier natürlich vorzugsweise von der II. Kammer, als der eigentlichen
Volksvertretung -- dem Abschluß seiner wichtigsten Arbeiten ziemlich nahe,
wenn auch der formelle Abschluß, wegen der nothwendigen Einigung mit der
I. Kammer, erst im Herbst nach dem Wiederzusammentritt der beiden Kam¬
mern erfolgen kann.

Wer freilich nur oberflächlich, nach dem ersten Blick oder Eindruck, oder
gar mit absichtlicher Voreingenommenheit und Verbissenheit über den Land¬
tag absprechen wollte, der hatte es am leichtesten, wenn er mit seinem Urtheil
gleich im Beginne der Sitzung fertig war und dann auch fertig dabei ver¬
blieb. Diese Methode war jedenfalls sehr bequem, weniger vielleicht gerecht,
noch weniger geistvoll, denn der wahre Geist zeigt sich beim Publicisten ebenso
wie beim Dichter darin, daß er die Dinge nicht blos nach ihrer Oberfläche
und ihrem Schein, sondern nach ihrer wahren Gestalt und ihrem innerm Zu¬
sammenhange betrachtet -- to slrow tue v"^ aZe ana xrWSure ok tuo
ein". --

Von Ihrem Beeichterstatter erwarten und verlangen Sie -- der Haltung
Ihres Blattes entsprechend -- sicherlich kein solches kurz absprechendes Urtheil,
selbst nicht um den, doch immer sehr zweideutigen Preis eines "pikanten"
Apercu. Sie wollen nur Wahrheit und Gerechtigkeit. Und mir, der weder,
wie Ihnen bewußt, vergeblich einen Platz in der Kammer ambirt hat, noch
durch persönliche Gunst oder Ungunst der Abgeordneten sich geschmeichelt oder
verletzt fühlt, mir wird nicht schwer fallen, sine irg, et swäio über die Ver¬
handlungen des Landtags zu berichten.

Auch will mir scheinen, als ob die besonnene Presse einen besonderen
Grund hätte, gegen diesen Landtag (ich meine immer wieder zunächst die
II. Kammer) und gegen die liberale Majorität dieser Kammer gerecht zu sein.
Denn ein gut Theil der öffentlichen Meinung im Lande ist in der That gegen
dieselbe mehr als ungerecht. Man ignorirt nicht blos großenteils die Ver¬
handlungen der Kammern, sondern behandelt sie wohl gar mit einer vor¬
nehm herabsehenden GleichgiltigM, als der Aufmerksamkeit und des Interesses
unwerth. Wir in der Wolle gefärbten "nationalen" hätten nun vielleicht
einigen Grund, so zu handeln. Wir könnten mit berechtigtem Stolze auf
"unsern Reichstag" hinweisen, der die kleinen Einzellandtage wie die Sonne
die Sterne erblassen macht. Aber nein, gerade die ärgsten Philister und Par-
ticularisten sind es, welche ihren allgemeinen politischen Indifferentismus
unter dem Mantel einer Herabsetzung der Einzellandtage gegen den Reichstag
verstecken, während sie doch für die Großheit dieses letzteren immer auch nur


rathungen abwarten." Damals stand der hiesige Landtag noch in seinen An¬
fängen. Jetzt steht er zwar noch nicht ganz am Ende seiner Berathungen.
Aber er hat doch seitdem ein gut Stück Wegs zurückgelegt, und ist — ich
spreche hier natürlich vorzugsweise von der II. Kammer, als der eigentlichen
Volksvertretung — dem Abschluß seiner wichtigsten Arbeiten ziemlich nahe,
wenn auch der formelle Abschluß, wegen der nothwendigen Einigung mit der
I. Kammer, erst im Herbst nach dem Wiederzusammentritt der beiden Kam¬
mern erfolgen kann.

Wer freilich nur oberflächlich, nach dem ersten Blick oder Eindruck, oder
gar mit absichtlicher Voreingenommenheit und Verbissenheit über den Land¬
tag absprechen wollte, der hatte es am leichtesten, wenn er mit seinem Urtheil
gleich im Beginne der Sitzung fertig war und dann auch fertig dabei ver¬
blieb. Diese Methode war jedenfalls sehr bequem, weniger vielleicht gerecht,
noch weniger geistvoll, denn der wahre Geist zeigt sich beim Publicisten ebenso
wie beim Dichter darin, daß er die Dinge nicht blos nach ihrer Oberfläche
und ihrem Schein, sondern nach ihrer wahren Gestalt und ihrem innerm Zu¬
sammenhange betrachtet — to slrow tue v«^ aZe ana xrWSure ok tuo
ein«. —

Von Ihrem Beeichterstatter erwarten und verlangen Sie — der Haltung
Ihres Blattes entsprechend — sicherlich kein solches kurz absprechendes Urtheil,
selbst nicht um den, doch immer sehr zweideutigen Preis eines „pikanten"
Apercu. Sie wollen nur Wahrheit und Gerechtigkeit. Und mir, der weder,
wie Ihnen bewußt, vergeblich einen Platz in der Kammer ambirt hat, noch
durch persönliche Gunst oder Ungunst der Abgeordneten sich geschmeichelt oder
verletzt fühlt, mir wird nicht schwer fallen, sine irg, et swäio über die Ver¬
handlungen des Landtags zu berichten.

Auch will mir scheinen, als ob die besonnene Presse einen besonderen
Grund hätte, gegen diesen Landtag (ich meine immer wieder zunächst die
II. Kammer) und gegen die liberale Majorität dieser Kammer gerecht zu sein.
Denn ein gut Theil der öffentlichen Meinung im Lande ist in der That gegen
dieselbe mehr als ungerecht. Man ignorirt nicht blos großenteils die Ver¬
handlungen der Kammern, sondern behandelt sie wohl gar mit einer vor¬
nehm herabsehenden GleichgiltigM, als der Aufmerksamkeit und des Interesses
unwerth. Wir in der Wolle gefärbten „nationalen" hätten nun vielleicht
einigen Grund, so zu handeln. Wir könnten mit berechtigtem Stolze auf
„unsern Reichstag" hinweisen, der die kleinen Einzellandtage wie die Sonne
die Sterne erblassen macht. Aber nein, gerade die ärgsten Philister und Par-
ticularisten sind es, welche ihren allgemeinen politischen Indifferentismus
unter dem Mantel einer Herabsetzung der Einzellandtage gegen den Reichstag
verstecken, während sie doch für die Großheit dieses letzteren immer auch nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/157>, abgerufen am 24.08.2024.