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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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dies ihre Hülfsquellen erschöpfen wird, ehe die Feiernden gesiegt haben. Die
wachsende Aufregung der Bevölkerung von Seraing nöthigt die belgische Re¬
gierung, Truppen zum Schutz der Personen und des Eigenthums kommen zu
lassen. Die eingetroffenen Soldaten werden von der wüthenden Volksmasse
beschimpft und mit Steinen geworfen, und sehen sich gezwungen, dieselbe
zurückzutreiben, wobei sie indeß sich des Gebrauchs der Feuerwaffe enthalten.
Die Cavallerie macht ein paar Chargen in der Mitte der Straßen, die In¬
fanterie räumt zu gleicher Zeit, mit gefälltem Bayonnet vordringend, die
Trottoirs. Zwei Arbeiter werden in diesekn Getümmel getödtet, mehrere an¬
dere Personen empfangen Verwundungen und Quetschungen von mehr oder
minder Bedeutung. Die Internationale macht sich diese Ereignisse zu Nutze,
indem sie ihre Werbungen rühriger wie je vorher betreibt, ihre Broschüren
verbreitet und die durch den Kampf gegen die Arbeitgeber und den Conflict
mit den Soldaten maßlos aufgeregten Arbeiter zu Meetings zusammenruft.
Dann, als man die Gemüther für hinreichend entflammt, für genügend durch
diese Ereignisse, diese Reden, diese Versammlungen und diese Flugschriften er¬
bittert hält, wirft der belgische Generalrats die folgende Ansprache unter die
Arbeiter von Seraing und Umgegend:

"Mitarbeiter!

Zu allen Zeiten sind Kummer und Elend das Loos des Arbeiters ge¬
wesen. Zu allen Zeiten hat das Volk Angesichts der Freuden seiner Herren
geseufzt, hat es Angesichts der Sattheit seiner Ausbeuter gehungert.

Aber der Mensch ist so geschaffen, daß er sich an alles gewöhnt, auch an
die härtesten Entbehrungen. Die Kette fährt fort, ihn zu belästigen, aber er
trägt sie ohne Murren. Er hat Alles verloren, selbst die Empfindung des
Hasses. Nun ist er wahrhaft Sklave, denn er fühlt nicht mehr die Schande
seiner Selaverei.

Seht, Mitarbeiter, das ist der unglückliche Zustand, auf den viele Ar¬
beiter gegenwärtig herabgebracht sind; er ist die Folge jener trägen Gleich¬
gültigkeit, welche die Stärke unserer Tyrannen ausmacht. Aber seht auch,
wie die Unglücklichen, welche bis jetzt ohne Murren geduldet haben, nunmehr
aufs Aeußerste getrieben, Forderungen laut werden lassen. Ihre Herren ver¬
wundern sich über so viel Dreistigkeit. Sie zittern, daß der Geist der Unab¬
hängigkeit sich unter der arbeitenden Classe fortpflanzen möge, und um dieses
Ungeheuer in der Wiege zu ersticken, säbeln sie nieder-, schießen sie nieder, kar¬
tätschen sie nieder. Aber nun begibt sich etwas, was diese herzlosen Menschen
nicht haben voraussehen können. Statt des tiefen Schweigens, welches nach
ihrer Meinung auf das Gemetzel folgen mußte, erheben sich von allen Seiten
Schreie der Entrüstung, der Haß erwacht im Herzen des Volkes, er ist da.
er richtet sich auf, er schäumt, bereit, seine Ketten zu zerbrechen.


dies ihre Hülfsquellen erschöpfen wird, ehe die Feiernden gesiegt haben. Die
wachsende Aufregung der Bevölkerung von Seraing nöthigt die belgische Re¬
gierung, Truppen zum Schutz der Personen und des Eigenthums kommen zu
lassen. Die eingetroffenen Soldaten werden von der wüthenden Volksmasse
beschimpft und mit Steinen geworfen, und sehen sich gezwungen, dieselbe
zurückzutreiben, wobei sie indeß sich des Gebrauchs der Feuerwaffe enthalten.
Die Cavallerie macht ein paar Chargen in der Mitte der Straßen, die In¬
fanterie räumt zu gleicher Zeit, mit gefälltem Bayonnet vordringend, die
Trottoirs. Zwei Arbeiter werden in diesekn Getümmel getödtet, mehrere an¬
dere Personen empfangen Verwundungen und Quetschungen von mehr oder
minder Bedeutung. Die Internationale macht sich diese Ereignisse zu Nutze,
indem sie ihre Werbungen rühriger wie je vorher betreibt, ihre Broschüren
verbreitet und die durch den Kampf gegen die Arbeitgeber und den Conflict
mit den Soldaten maßlos aufgeregten Arbeiter zu Meetings zusammenruft.
Dann, als man die Gemüther für hinreichend entflammt, für genügend durch
diese Ereignisse, diese Reden, diese Versammlungen und diese Flugschriften er¬
bittert hält, wirft der belgische Generalrats die folgende Ansprache unter die
Arbeiter von Seraing und Umgegend:

„Mitarbeiter!

Zu allen Zeiten sind Kummer und Elend das Loos des Arbeiters ge¬
wesen. Zu allen Zeiten hat das Volk Angesichts der Freuden seiner Herren
geseufzt, hat es Angesichts der Sattheit seiner Ausbeuter gehungert.

Aber der Mensch ist so geschaffen, daß er sich an alles gewöhnt, auch an
die härtesten Entbehrungen. Die Kette fährt fort, ihn zu belästigen, aber er
trägt sie ohne Murren. Er hat Alles verloren, selbst die Empfindung des
Hasses. Nun ist er wahrhaft Sklave, denn er fühlt nicht mehr die Schande
seiner Selaverei.

Seht, Mitarbeiter, das ist der unglückliche Zustand, auf den viele Ar¬
beiter gegenwärtig herabgebracht sind; er ist die Folge jener trägen Gleich¬
gültigkeit, welche die Stärke unserer Tyrannen ausmacht. Aber seht auch,
wie die Unglücklichen, welche bis jetzt ohne Murren geduldet haben, nunmehr
aufs Aeußerste getrieben, Forderungen laut werden lassen. Ihre Herren ver¬
wundern sich über so viel Dreistigkeit. Sie zittern, daß der Geist der Unab¬
hängigkeit sich unter der arbeitenden Classe fortpflanzen möge, und um dieses
Ungeheuer in der Wiege zu ersticken, säbeln sie nieder-, schießen sie nieder, kar¬
tätschen sie nieder. Aber nun begibt sich etwas, was diese herzlosen Menschen
nicht haben voraussehen können. Statt des tiefen Schweigens, welches nach
ihrer Meinung auf das Gemetzel folgen mußte, erheben sich von allen Seiten
Schreie der Entrüstung, der Haß erwacht im Herzen des Volkes, er ist da.
er richtet sich auf, er schäumt, bereit, seine Ketten zu zerbrechen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/148>, abgerufen am 26.06.2024.