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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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starkem Gehalt trinkt, dieser Vortheile nicht theilhaftig. Man findet die trun¬
kenen Gestalten, gestikulirend und lärmend, zahlreich in den Straßen wanken
und hinstürzen; sie bleiben dann liegen, ohne daß sich Jemand um sie küm¬
mert. Nur in Petersburg gilt eine Ausnahme. Hier hat jeder Hausbesitzer
die Pflicht, einen vor seiner Thür liegenden Trunkenbold wegzuschaffen. Es
geschieht dies meist in der Art, daß der Hausdiener den Trunkenen auf des
Nachbars Terrain trägt, wo er liegen bleibt, bis der Hausdiener des Nach¬
bars ihn weiterbefördert. Zuletzt langt er glücklich beim Polizeibureau an,
wo er eingesperrt wird. Welche colossale Masse Branntwein Rußland con-
sumirt, geht daraus hervor, daß der russische Staat 46°/g seiner gesammten
Revenuen aus der Branntweinsteuer bezieht, also beinahe die Hälfte (nach
ihm kommen England und Scandinavien mit 24°/". dann Oesterreich mit 10,
Frankreich unter dem Kaiserreich- mit 9°/" und Preußen mit 6°/o). Auf den
Kopf der Bevölkerung kommt an Branntweinverbrauch (Weiber und Kinder
mit eingerechnet) in Rußland per Jahr 0,87 Wedro (der Wedro oder Eimer
21 Bordeauxflaschen haltend), also auf den Kopf etwa 17'/" Liter oder
28 Pfund. Doch ist der Verbrauch in den verschiedenen Theilen des Reiches
ein sehr verschiedener, und während z. B. in Petersburg auf den Kopf der
Bevölkerung 1,68 Wedro,' das ist ungefähr 35^ und in Moskau 1,07 We¬
dro oder 21 ^ Liter kommen, ist der Verbrauch in Sibirien nur 0,44 Wedro
oder etwa 9'/j Liter. In dem colossalen Verbrauch des Branntweins wird
Nußland nur von England Übertrossen, wo der Staat von dem Kopf der
Bevölkerung (im Jahr 1858) 3 Rubel 69 Kopeken Nettogewinn zog, und
nach neueren Mittheilungen etwa 60 Pfund Branntweinverbrauch auf den
Kopf der Bevölkerung kommt, während in Rußland der Ertrag per Kopf
nur 2 Rubel 18 Kopeken und der Consum 28 Pfund beträgt. In dem
Verbrauch des Branntweins folgt dicht hinter Rußland Norwegen und Schwe¬
den. In Petersburg allein wurden in den fünf Jahren von 1861 bis 1865
4458 Personen in den Hospitälern am Säuferwahnsinn behandelt, was auf's
Jahr etwa 892 Personen ergiebt. Es ist bemerkenswerth, daß hierzu die
niedere Beamtenklasse das größte Contingent lieferte, hinter denen dann der
Handwerker und Kleinbürger stand und zuletzt in noch erheblich niedrigerem
Prozentsatz die Tagelöhner mit wechselnder Beschäftigung rangirten, während
die übrigen Prozente sich auf verschiedene Berufsstände vertheilten. Ein Arzt
aus meiner Bekanntschaft, der mehrere Jahre im Innern Rußlands in staat¬
licher Stellung zubrachte, erhielt monatlich einen Wedro Branntwein als
Deputat, was jährlich die Kleinigkeit von 1000 Bordeauxflaschen Branntwein
ergiebt. Natürlich verbrauchte er persönlich nur den geringsten Theil dieses
ungeheuren Quantums.


starkem Gehalt trinkt, dieser Vortheile nicht theilhaftig. Man findet die trun¬
kenen Gestalten, gestikulirend und lärmend, zahlreich in den Straßen wanken
und hinstürzen; sie bleiben dann liegen, ohne daß sich Jemand um sie küm¬
mert. Nur in Petersburg gilt eine Ausnahme. Hier hat jeder Hausbesitzer
die Pflicht, einen vor seiner Thür liegenden Trunkenbold wegzuschaffen. Es
geschieht dies meist in der Art, daß der Hausdiener den Trunkenen auf des
Nachbars Terrain trägt, wo er liegen bleibt, bis der Hausdiener des Nach¬
bars ihn weiterbefördert. Zuletzt langt er glücklich beim Polizeibureau an,
wo er eingesperrt wird. Welche colossale Masse Branntwein Rußland con-
sumirt, geht daraus hervor, daß der russische Staat 46°/g seiner gesammten
Revenuen aus der Branntweinsteuer bezieht, also beinahe die Hälfte (nach
ihm kommen England und Scandinavien mit 24°/». dann Oesterreich mit 10,
Frankreich unter dem Kaiserreich- mit 9°/« und Preußen mit 6°/o). Auf den
Kopf der Bevölkerung kommt an Branntweinverbrauch (Weiber und Kinder
mit eingerechnet) in Rußland per Jahr 0,87 Wedro (der Wedro oder Eimer
21 Bordeauxflaschen haltend), also auf den Kopf etwa 17'/» Liter oder
28 Pfund. Doch ist der Verbrauch in den verschiedenen Theilen des Reiches
ein sehr verschiedener, und während z. B. in Petersburg auf den Kopf der
Bevölkerung 1,68 Wedro,' das ist ungefähr 35^ und in Moskau 1,07 We¬
dro oder 21 ^ Liter kommen, ist der Verbrauch in Sibirien nur 0,44 Wedro
oder etwa 9'/j Liter. In dem colossalen Verbrauch des Branntweins wird
Nußland nur von England Übertrossen, wo der Staat von dem Kopf der
Bevölkerung (im Jahr 1858) 3 Rubel 69 Kopeken Nettogewinn zog, und
nach neueren Mittheilungen etwa 60 Pfund Branntweinverbrauch auf den
Kopf der Bevölkerung kommt, während in Rußland der Ertrag per Kopf
nur 2 Rubel 18 Kopeken und der Consum 28 Pfund beträgt. In dem
Verbrauch des Branntweins folgt dicht hinter Rußland Norwegen und Schwe¬
den. In Petersburg allein wurden in den fünf Jahren von 1861 bis 1865
4458 Personen in den Hospitälern am Säuferwahnsinn behandelt, was auf's
Jahr etwa 892 Personen ergiebt. Es ist bemerkenswerth, daß hierzu die
niedere Beamtenklasse das größte Contingent lieferte, hinter denen dann der
Handwerker und Kleinbürger stand und zuletzt in noch erheblich niedrigerem
Prozentsatz die Tagelöhner mit wechselnder Beschäftigung rangirten, während
die übrigen Prozente sich auf verschiedene Berufsstände vertheilten. Ein Arzt
aus meiner Bekanntschaft, der mehrere Jahre im Innern Rußlands in staat¬
licher Stellung zubrachte, erhielt monatlich einen Wedro Branntwein als
Deputat, was jährlich die Kleinigkeit von 1000 Bordeauxflaschen Branntwein
ergiebt. Natürlich verbrauchte er persönlich nur den geringsten Theil dieses
ungeheuren Quantums.


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[0114] starkem Gehalt trinkt, dieser Vortheile nicht theilhaftig. Man findet die trun¬ kenen Gestalten, gestikulirend und lärmend, zahlreich in den Straßen wanken und hinstürzen; sie bleiben dann liegen, ohne daß sich Jemand um sie küm¬ mert. Nur in Petersburg gilt eine Ausnahme. Hier hat jeder Hausbesitzer die Pflicht, einen vor seiner Thür liegenden Trunkenbold wegzuschaffen. Es geschieht dies meist in der Art, daß der Hausdiener den Trunkenen auf des Nachbars Terrain trägt, wo er liegen bleibt, bis der Hausdiener des Nach¬ bars ihn weiterbefördert. Zuletzt langt er glücklich beim Polizeibureau an, wo er eingesperrt wird. Welche colossale Masse Branntwein Rußland con- sumirt, geht daraus hervor, daß der russische Staat 46°/g seiner gesammten Revenuen aus der Branntweinsteuer bezieht, also beinahe die Hälfte (nach ihm kommen England und Scandinavien mit 24°/». dann Oesterreich mit 10, Frankreich unter dem Kaiserreich- mit 9°/« und Preußen mit 6°/o). Auf den Kopf der Bevölkerung kommt an Branntweinverbrauch (Weiber und Kinder mit eingerechnet) in Rußland per Jahr 0,87 Wedro (der Wedro oder Eimer 21 Bordeauxflaschen haltend), also auf den Kopf etwa 17'/» Liter oder 28 Pfund. Doch ist der Verbrauch in den verschiedenen Theilen des Reiches ein sehr verschiedener, und während z. B. in Petersburg auf den Kopf der Bevölkerung 1,68 Wedro,' das ist ungefähr 35^ und in Moskau 1,07 We¬ dro oder 21 ^ Liter kommen, ist der Verbrauch in Sibirien nur 0,44 Wedro oder etwa 9'/j Liter. In dem colossalen Verbrauch des Branntweins wird Nußland nur von England Übertrossen, wo der Staat von dem Kopf der Bevölkerung (im Jahr 1858) 3 Rubel 69 Kopeken Nettogewinn zog, und nach neueren Mittheilungen etwa 60 Pfund Branntweinverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung kommt, während in Rußland der Ertrag per Kopf nur 2 Rubel 18 Kopeken und der Consum 28 Pfund beträgt. In dem Verbrauch des Branntweins folgt dicht hinter Rußland Norwegen und Schwe¬ den. In Petersburg allein wurden in den fünf Jahren von 1861 bis 1865 4458 Personen in den Hospitälern am Säuferwahnsinn behandelt, was auf's Jahr etwa 892 Personen ergiebt. Es ist bemerkenswerth, daß hierzu die niedere Beamtenklasse das größte Contingent lieferte, hinter denen dann der Handwerker und Kleinbürger stand und zuletzt in noch erheblich niedrigerem Prozentsatz die Tagelöhner mit wechselnder Beschäftigung rangirten, während die übrigen Prozente sich auf verschiedene Berufsstände vertheilten. Ein Arzt aus meiner Bekanntschaft, der mehrere Jahre im Innern Rußlands in staat¬ licher Stellung zubrachte, erhielt monatlich einen Wedro Branntwein als Deputat, was jährlich die Kleinigkeit von 1000 Bordeauxflaschen Branntwein ergiebt. Natürlich verbrauchte er persönlich nur den geringsten Theil dieses ungeheuren Quantums.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/114>, abgerufen am 22.12.2024.