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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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und stellenweise wirklich schön. Grüne Matten und Thäler, von Bächen und
Flüssen durchzogen, wechseln mit zum Theil ansehnlichen bewaldeten Hügeln.
Wilna selbst liegt äußerst romantisch; man sagt, Napoleon I. habe, als er
bei Beginn seines unglücklichen Feldzuges jene Gegend betrat, überrascht die¬
selbe die Schweiz Rußlands genannt. Wilna liegt in einem Thale, an dessen
Höhen sich die Eisenbahn hinzieht. Der Anblick ist prächtig. Die Stadt
präsentirt sich in ihren weißen Häusern und Kirchen mit ihren grünen und
hellblauen Dächern und Kuppeln in einem ganz eigenthümlichen orientalischen
Reize und das schöne Panorama entschwindet dem Reisenden nur zu schnell.
Wilna zählt, irre ich nicht, etwa 80,000 Seelen, und die Bevölkerung ist ein
eigenthümliches Gemisch der verschiedensten Nationen: Deutsche, Polen, Russen
und vor allem Juden. Die letzteren machen fast die Hälfte aller Bewohner
aus, hinter ihnen in der Zahl rangiren die Polen. Der Bevölkerung ent¬
spricht auch die Mannigfaltigkeit der Sprache, und in der Regel sprechen die
Bewohner alle Sprachen zugleich.

Bis Kowno und Wilna sind die Bevölkerungselemente ganz entschieden
slavischer Natur, aber sie zeigen, wegen der Vermischung des polnischen Ele¬
mentes mit dem russischen, noch keinen ausgeprägt moskowitischen Charakter.
Hinter -- oder von hier aus gesprochen -- diesseits Wilna wird Alles russisch:
Tracht, Sprache, Fuhrwesen, Charakter der Gebäude, Speisen, Sitten. Bei¬
nahe hätte ich hinzugefügt -- Unreinlichst! Allein diese findet man schon
von der Grenze an, sie ist ein Erbtheil der slavischen Nationen und unzer¬
trennlich mit ihnen verbunden. Sie ist so charakteristisch, daß sie nicht einmal
an der Grenze Halt macht, sondern tief ins Preußische hineingeht, wo irgend
slavisches Element vorherrscht. Auf vielen polnischen Gütern in Preußen finden
sich nicht einmal jene Anstalten, die einem unmittelbaren und täglichen
menschlichen Bedürfniß Rechnung tragen, und es ist beispielsweise ebenso be¬
zeichnend in dieser Richtung, wie wahr, daß auf einem von einem Deutschen
erkauften, ehemals in polnischen Händen befindlichen Gute das gesammte
Hofgesinde verschmähte, von diesen nun neuerbauten Anlagen Gebrauch zu
machen, welche bis dahin für Herrschaft und Gesinde völlig gefehlt hatten, und
daß es vorzog, die daneben befindlichen Düngerhaufen zu benutzen,,bis der an¬
haltende Gebrauch der Peitsche des Gutsinspectors es von hier nachhaltig vertrieb.
Diessen der russischen Grenze wird der in dies Gebiet einschlagende Reinlich¬
keitszustand auf den Haltestellen der Bahnen geradezu unerträglich. Nur aus
den bedeutenderen Bahnhöfen, etwa 4 bis 5 auf der ganzen Strecke von der
Grenze bis Se. Petersburg, findet man geordnete Zustände. Auf mehreren
Haltestationen glaubt man durch die Anlage einer Reihe offen neben einander
liegender Löcher im Fußboden dem Bedürfniß vollauf Genüge gethan zu
haben. Auch auf der dritten Wagenklasse der Eisenbahnen zu fahren, möchte


und stellenweise wirklich schön. Grüne Matten und Thäler, von Bächen und
Flüssen durchzogen, wechseln mit zum Theil ansehnlichen bewaldeten Hügeln.
Wilna selbst liegt äußerst romantisch; man sagt, Napoleon I. habe, als er
bei Beginn seines unglücklichen Feldzuges jene Gegend betrat, überrascht die¬
selbe die Schweiz Rußlands genannt. Wilna liegt in einem Thale, an dessen
Höhen sich die Eisenbahn hinzieht. Der Anblick ist prächtig. Die Stadt
präsentirt sich in ihren weißen Häusern und Kirchen mit ihren grünen und
hellblauen Dächern und Kuppeln in einem ganz eigenthümlichen orientalischen
Reize und das schöne Panorama entschwindet dem Reisenden nur zu schnell.
Wilna zählt, irre ich nicht, etwa 80,000 Seelen, und die Bevölkerung ist ein
eigenthümliches Gemisch der verschiedensten Nationen: Deutsche, Polen, Russen
und vor allem Juden. Die letzteren machen fast die Hälfte aller Bewohner
aus, hinter ihnen in der Zahl rangiren die Polen. Der Bevölkerung ent¬
spricht auch die Mannigfaltigkeit der Sprache, und in der Regel sprechen die
Bewohner alle Sprachen zugleich.

Bis Kowno und Wilna sind die Bevölkerungselemente ganz entschieden
slavischer Natur, aber sie zeigen, wegen der Vermischung des polnischen Ele¬
mentes mit dem russischen, noch keinen ausgeprägt moskowitischen Charakter.
Hinter — oder von hier aus gesprochen — diesseits Wilna wird Alles russisch:
Tracht, Sprache, Fuhrwesen, Charakter der Gebäude, Speisen, Sitten. Bei¬
nahe hätte ich hinzugefügt — Unreinlichst! Allein diese findet man schon
von der Grenze an, sie ist ein Erbtheil der slavischen Nationen und unzer¬
trennlich mit ihnen verbunden. Sie ist so charakteristisch, daß sie nicht einmal
an der Grenze Halt macht, sondern tief ins Preußische hineingeht, wo irgend
slavisches Element vorherrscht. Auf vielen polnischen Gütern in Preußen finden
sich nicht einmal jene Anstalten, die einem unmittelbaren und täglichen
menschlichen Bedürfniß Rechnung tragen, und es ist beispielsweise ebenso be¬
zeichnend in dieser Richtung, wie wahr, daß auf einem von einem Deutschen
erkauften, ehemals in polnischen Händen befindlichen Gute das gesammte
Hofgesinde verschmähte, von diesen nun neuerbauten Anlagen Gebrauch zu
machen, welche bis dahin für Herrschaft und Gesinde völlig gefehlt hatten, und
daß es vorzog, die daneben befindlichen Düngerhaufen zu benutzen,,bis der an¬
haltende Gebrauch der Peitsche des Gutsinspectors es von hier nachhaltig vertrieb.
Diessen der russischen Grenze wird der in dies Gebiet einschlagende Reinlich¬
keitszustand auf den Haltestellen der Bahnen geradezu unerträglich. Nur aus
den bedeutenderen Bahnhöfen, etwa 4 bis 5 auf der ganzen Strecke von der
Grenze bis Se. Petersburg, findet man geordnete Zustände. Auf mehreren
Haltestationen glaubt man durch die Anlage einer Reihe offen neben einander
liegender Löcher im Fußboden dem Bedürfniß vollauf Genüge gethan zu
haben. Auch auf der dritten Wagenklasse der Eisenbahnen zu fahren, möchte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/111>, abgerufen am 22.07.2024.