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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Vorwurf der Unkenntniß über die Verhältnisse unserer östlichen Nachbarn.
Freilich stehen uns manche Entschuldigungen zur Seite, welche die Franzosen
nicht haben, die Absperrung des russischen Reiches und der niedere Cultur¬
stand des Volkes, der unsere Wißbegierde wenig reizt. Aber Entschuldigungs-
gründe sind noch immer nicht Gründe der Rechtfertigung. Man weiß im All¬
gemeinen herzlich wenig über Rußland und Vieles, was man zu wissen meint,
ist irrig. Die Verhältnisse der Ostseeprovinzen, die Verhältnisse Finnlands zu
Rußland werden vielfach gar nicht verstanden, Erscheinungen, Borgänge und
Thatsachen mit einander in Verbindung gebracht, die gar nicht mit einander
in Wechselbeziehung stehen und bei Beurtheilung der Zustände und Ereignisse
der Maaßstab ererbter Vorurtheile angelegt. Ein guter Theil der Schuld an
dieser Unkenntniß und diesen Irrthümern fällt auf das ungenügende Maaß
der Literatur über russische Verhältnisse. Selbst die große Masse der russischen
Correspondenzen in den politischen Tagesblättern Deutschlands bewegt sich
mit spärlichen Ausnahmen nur auf der Oberfläche der Anschauung. Die
Wenigsten der Correspondenten haben Einblick in das Walten und Wirken
der Regierungsmaschine, in den Verkehr der höheren Gesellschaftskreise, in die
eigentlich bewegende Staatspolitik. Selbst naheliegende, äußere Verhältnisse,
die Organisation der Verwaltung und der Behörden, des Besteuerungswesens,
der Justiz, der kirchlichen und Unterrichtsverhältnisse, des Handelsverkehrs sind
ihnen nicht überall geläufig, Sie beschränken sich darauf, die russischen
Zeitungen zu lesen und aus ihnen an Tagesneuigkeiten zu entnehmen und zu
einer Correspondenz zusammenzustellen, was ihnen interessant dünkt; fehlt
auch solcher Stoff, so muß das abgenutzte Thema von Katkow und der rus¬
sischen Hetzpresse herhalten. Der unreifen, oberflächlichen und falschen Berichte,
mit welchen die politische Tagespresse Deutschlands aus Nußland versehen
wird, sind so viele, daß man hier, wenn sie mit den deutschen Blättern zu
uns zurückkehren, mit Lächeln die Blätter aus der Hand legt oder sie weiter
reicht, um auch Andere des Vergnügens theilhaftig werden zu lassen, was
für abgeschmacktes Zeug über Rußland dem Auslande aufgetischt wird. Es
gibt achtbare Ausnahmen, aber diese sind, wie ich schon bemerkt, spärlich ge¬
säet. Als im April vorigen Jahres die Cholera hier im Erlöschen war, über¬
raschte uns die "Vossische Zeitung" mit der funkelnagelneuen Nachricht von
dem so rapiden Zunehmen der Epidemie, daß, wer das Geld auftreiben könne,
mit Sack und Pack eile, das Weite zu suchen. Das ist nur ein Beispiel, wie
ich sie dutzendweise aufzählen könnte.

Wenn man über Land und Leute eines fremden Landes berichten will,
so ist der Berichterstatter im Vortheil, der unter dem frischen Eindrucke des
Erlebten und Wahrgenommenen schreibt; Schilderungen aus unmittelbarer,
frischer Wahrnehmung haben aber auch den Nachtheil, daß oft, aus Mangel an


Vorwurf der Unkenntniß über die Verhältnisse unserer östlichen Nachbarn.
Freilich stehen uns manche Entschuldigungen zur Seite, welche die Franzosen
nicht haben, die Absperrung des russischen Reiches und der niedere Cultur¬
stand des Volkes, der unsere Wißbegierde wenig reizt. Aber Entschuldigungs-
gründe sind noch immer nicht Gründe der Rechtfertigung. Man weiß im All¬
gemeinen herzlich wenig über Rußland und Vieles, was man zu wissen meint,
ist irrig. Die Verhältnisse der Ostseeprovinzen, die Verhältnisse Finnlands zu
Rußland werden vielfach gar nicht verstanden, Erscheinungen, Borgänge und
Thatsachen mit einander in Verbindung gebracht, die gar nicht mit einander
in Wechselbeziehung stehen und bei Beurtheilung der Zustände und Ereignisse
der Maaßstab ererbter Vorurtheile angelegt. Ein guter Theil der Schuld an
dieser Unkenntniß und diesen Irrthümern fällt auf das ungenügende Maaß
der Literatur über russische Verhältnisse. Selbst die große Masse der russischen
Correspondenzen in den politischen Tagesblättern Deutschlands bewegt sich
mit spärlichen Ausnahmen nur auf der Oberfläche der Anschauung. Die
Wenigsten der Correspondenten haben Einblick in das Walten und Wirken
der Regierungsmaschine, in den Verkehr der höheren Gesellschaftskreise, in die
eigentlich bewegende Staatspolitik. Selbst naheliegende, äußere Verhältnisse,
die Organisation der Verwaltung und der Behörden, des Besteuerungswesens,
der Justiz, der kirchlichen und Unterrichtsverhältnisse, des Handelsverkehrs sind
ihnen nicht überall geläufig, Sie beschränken sich darauf, die russischen
Zeitungen zu lesen und aus ihnen an Tagesneuigkeiten zu entnehmen und zu
einer Correspondenz zusammenzustellen, was ihnen interessant dünkt; fehlt
auch solcher Stoff, so muß das abgenutzte Thema von Katkow und der rus¬
sischen Hetzpresse herhalten. Der unreifen, oberflächlichen und falschen Berichte,
mit welchen die politische Tagespresse Deutschlands aus Nußland versehen
wird, sind so viele, daß man hier, wenn sie mit den deutschen Blättern zu
uns zurückkehren, mit Lächeln die Blätter aus der Hand legt oder sie weiter
reicht, um auch Andere des Vergnügens theilhaftig werden zu lassen, was
für abgeschmacktes Zeug über Rußland dem Auslande aufgetischt wird. Es
gibt achtbare Ausnahmen, aber diese sind, wie ich schon bemerkt, spärlich ge¬
säet. Als im April vorigen Jahres die Cholera hier im Erlöschen war, über¬
raschte uns die „Vossische Zeitung" mit der funkelnagelneuen Nachricht von
dem so rapiden Zunehmen der Epidemie, daß, wer das Geld auftreiben könne,
mit Sack und Pack eile, das Weite zu suchen. Das ist nur ein Beispiel, wie
ich sie dutzendweise aufzählen könnte.

Wenn man über Land und Leute eines fremden Landes berichten will,
so ist der Berichterstatter im Vortheil, der unter dem frischen Eindrucke des
Erlebten und Wahrgenommenen schreibt; Schilderungen aus unmittelbarer,
frischer Wahrnehmung haben aber auch den Nachtheil, daß oft, aus Mangel an


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[0108] Vorwurf der Unkenntniß über die Verhältnisse unserer östlichen Nachbarn. Freilich stehen uns manche Entschuldigungen zur Seite, welche die Franzosen nicht haben, die Absperrung des russischen Reiches und der niedere Cultur¬ stand des Volkes, der unsere Wißbegierde wenig reizt. Aber Entschuldigungs- gründe sind noch immer nicht Gründe der Rechtfertigung. Man weiß im All¬ gemeinen herzlich wenig über Rußland und Vieles, was man zu wissen meint, ist irrig. Die Verhältnisse der Ostseeprovinzen, die Verhältnisse Finnlands zu Rußland werden vielfach gar nicht verstanden, Erscheinungen, Borgänge und Thatsachen mit einander in Verbindung gebracht, die gar nicht mit einander in Wechselbeziehung stehen und bei Beurtheilung der Zustände und Ereignisse der Maaßstab ererbter Vorurtheile angelegt. Ein guter Theil der Schuld an dieser Unkenntniß und diesen Irrthümern fällt auf das ungenügende Maaß der Literatur über russische Verhältnisse. Selbst die große Masse der russischen Correspondenzen in den politischen Tagesblättern Deutschlands bewegt sich mit spärlichen Ausnahmen nur auf der Oberfläche der Anschauung. Die Wenigsten der Correspondenten haben Einblick in das Walten und Wirken der Regierungsmaschine, in den Verkehr der höheren Gesellschaftskreise, in die eigentlich bewegende Staatspolitik. Selbst naheliegende, äußere Verhältnisse, die Organisation der Verwaltung und der Behörden, des Besteuerungswesens, der Justiz, der kirchlichen und Unterrichtsverhältnisse, des Handelsverkehrs sind ihnen nicht überall geläufig, Sie beschränken sich darauf, die russischen Zeitungen zu lesen und aus ihnen an Tagesneuigkeiten zu entnehmen und zu einer Correspondenz zusammenzustellen, was ihnen interessant dünkt; fehlt auch solcher Stoff, so muß das abgenutzte Thema von Katkow und der rus¬ sischen Hetzpresse herhalten. Der unreifen, oberflächlichen und falschen Berichte, mit welchen die politische Tagespresse Deutschlands aus Nußland versehen wird, sind so viele, daß man hier, wenn sie mit den deutschen Blättern zu uns zurückkehren, mit Lächeln die Blätter aus der Hand legt oder sie weiter reicht, um auch Andere des Vergnügens theilhaftig werden zu lassen, was für abgeschmacktes Zeug über Rußland dem Auslande aufgetischt wird. Es gibt achtbare Ausnahmen, aber diese sind, wie ich schon bemerkt, spärlich ge¬ säet. Als im April vorigen Jahres die Cholera hier im Erlöschen war, über¬ raschte uns die „Vossische Zeitung" mit der funkelnagelneuen Nachricht von dem so rapiden Zunehmen der Epidemie, daß, wer das Geld auftreiben könne, mit Sack und Pack eile, das Weite zu suchen. Das ist nur ein Beispiel, wie ich sie dutzendweise aufzählen könnte. Wenn man über Land und Leute eines fremden Landes berichten will, so ist der Berichterstatter im Vortheil, der unter dem frischen Eindrucke des Erlebten und Wahrgenommenen schreibt; Schilderungen aus unmittelbarer, frischer Wahrnehmung haben aber auch den Nachtheil, daß oft, aus Mangel an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/108>, abgerufen am 22.07.2024.