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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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-- Der Mensch ist eine armselige Eintagsfliege, der nicht zusammenhängt
und nicht seine Zusammengehörigkeit fühlt mit denen, die vor ihm waren, die
mit ihm sind, und die nach ihm sein werden. Des Menschen Zusammenhang
mit der Menschheit, des Menschen Zusammengehörigkeit mit einem bestimmten
Volke zu sichern und zu erkennen, darauf ist von je das mannigfaltigste Be¬
mühen mit den mannigfaltigsten Mitteln gerichtet gewesen. Aber niemals
ist das Walten des Geistes, wie er ein Volk sich schafft und bildet, wie er
in dessen jugendlichen Ahnungen und Geheimnissen, in seinen Räthseln und
Wundern, in seinen Heiligthümern und Lebensordnungen sich offenbart und
verschleiert -- niemals ist die Jugendperiode eines Volkes, niemals das Fort¬
wirken der unbewußten Lebenskraft in den reifen Perioden des bewußten
Lebens so erkannt und erforscht worden, wie von Jacob Grimm die unbe¬
wußt schaffende Seele des deutschen Volkes. Es ist, als ob der Zauberbrunnen
wieder zu fließen begönne, der lange vertrocknet war, aus dem die Gestalten
des Lebens empordringen. Einst und jetzt ist wieder Eins, was zerstückt und
verkümmert war, fließt wieder in einem ewig lebendigen Strom dahin. Frei¬
lich nur dem Auge des Sehers, der in den verblichenen Denkmalen zu lesen
versteht. Aber die Gesichte des Sehers kommen auf tausendfältigen Wegen
der nationalen Bildung, der nationalen Lebenskraft und Selbstverständniß
zu Gute.

Dem Mann, der so sein Auge versenkt hat in den untheilbaren Strom
der schaffenden Lebenskraft des deutschen Volksthumes, dem knüpft sich bei
einem Anlaß der Gegenwart das Heut an das Gestern und an das Künftige,
der Tag an das Ewige. Es ist, als hörten wir einen jener Weisen des
Märchens reden, die uralt sind und eben darum gegen das Alter gefeit, wo
Alter ist wie ewige Jugend, nicht wie Jugendblüthe, aber wie unvergängliche
Frucht. Von dem Alltäglichen werden wir hier zu dem geführt, was unver¬
gänglich und köstlich ist.

Der Mann, der uns so geleitet, vergißt sich selbst und lehrt uns, unser
vergessen in der Betrachtung lebendigen Waltens, wo alles Einzelne getragen
wird und ebenso verschwindet. Nicht schwer und räthselhaft, nicht in künst¬
lichen Gedankenreihen führt er uns zu dem Spiegel seiner Gesichte. Es ist
das Einfachste, das scheinbar Selbstverständliche, was er abhebt von der Ober¬
fläche der Erscheinungen. Indem wir dem aufgenommenen Punkt folgen,
gewahren wir einen fortlaufenden Faden, an den uns haltend, wie im Märchen,
wir uns auf den Grund der Dinge versetzt finden. Solche Selbstlosigkeit des
Betrachters erzeugt wohl zuweilen, wir gestehen es, ein gewisses Durcheinander
der Dinge, der Bilder, wie es im Strom des Lebens ist. Nicht so vornehm
stolz und klar wie Goethe hält Jacob Grimm sich von dem eindringenden
Fluß der umgebenden Dinge zurück. Der mächtige Geist des Dichters hält


— Der Mensch ist eine armselige Eintagsfliege, der nicht zusammenhängt
und nicht seine Zusammengehörigkeit fühlt mit denen, die vor ihm waren, die
mit ihm sind, und die nach ihm sein werden. Des Menschen Zusammenhang
mit der Menschheit, des Menschen Zusammengehörigkeit mit einem bestimmten
Volke zu sichern und zu erkennen, darauf ist von je das mannigfaltigste Be¬
mühen mit den mannigfaltigsten Mitteln gerichtet gewesen. Aber niemals
ist das Walten des Geistes, wie er ein Volk sich schafft und bildet, wie er
in dessen jugendlichen Ahnungen und Geheimnissen, in seinen Räthseln und
Wundern, in seinen Heiligthümern und Lebensordnungen sich offenbart und
verschleiert — niemals ist die Jugendperiode eines Volkes, niemals das Fort¬
wirken der unbewußten Lebenskraft in den reifen Perioden des bewußten
Lebens so erkannt und erforscht worden, wie von Jacob Grimm die unbe¬
wußt schaffende Seele des deutschen Volkes. Es ist, als ob der Zauberbrunnen
wieder zu fließen begönne, der lange vertrocknet war, aus dem die Gestalten
des Lebens empordringen. Einst und jetzt ist wieder Eins, was zerstückt und
verkümmert war, fließt wieder in einem ewig lebendigen Strom dahin. Frei¬
lich nur dem Auge des Sehers, der in den verblichenen Denkmalen zu lesen
versteht. Aber die Gesichte des Sehers kommen auf tausendfältigen Wegen
der nationalen Bildung, der nationalen Lebenskraft und Selbstverständniß
zu Gute.

Dem Mann, der so sein Auge versenkt hat in den untheilbaren Strom
der schaffenden Lebenskraft des deutschen Volksthumes, dem knüpft sich bei
einem Anlaß der Gegenwart das Heut an das Gestern und an das Künftige,
der Tag an das Ewige. Es ist, als hörten wir einen jener Weisen des
Märchens reden, die uralt sind und eben darum gegen das Alter gefeit, wo
Alter ist wie ewige Jugend, nicht wie Jugendblüthe, aber wie unvergängliche
Frucht. Von dem Alltäglichen werden wir hier zu dem geführt, was unver¬
gänglich und köstlich ist.

Der Mann, der uns so geleitet, vergißt sich selbst und lehrt uns, unser
vergessen in der Betrachtung lebendigen Waltens, wo alles Einzelne getragen
wird und ebenso verschwindet. Nicht schwer und räthselhaft, nicht in künst¬
lichen Gedankenreihen führt er uns zu dem Spiegel seiner Gesichte. Es ist
das Einfachste, das scheinbar Selbstverständliche, was er abhebt von der Ober¬
fläche der Erscheinungen. Indem wir dem aufgenommenen Punkt folgen,
gewahren wir einen fortlaufenden Faden, an den uns haltend, wie im Märchen,
wir uns auf den Grund der Dinge versetzt finden. Solche Selbstlosigkeit des
Betrachters erzeugt wohl zuweilen, wir gestehen es, ein gewisses Durcheinander
der Dinge, der Bilder, wie es im Strom des Lebens ist. Nicht so vornehm
stolz und klar wie Goethe hält Jacob Grimm sich von dem eindringenden
Fluß der umgebenden Dinge zurück. Der mächtige Geist des Dichters hält


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/10>, abgerufen am 22.07.2024.