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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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den). Seitdem war die ganze Strecke bis zur nächsten Station Tag und
Nacht mit Wachen versehen.

Unser Militärarzt, der immer erst die Speisen kostete, ehe sie den
Kranken gebracht wurden, sprach mit dankbarer Anerkennung von den Ein¬
richtungen der Frau Schmidt, Und wirklich, auch mir schien, als ob Einige,
die gerade aus den Typhushospitälern blaß und schwach angekommen waren
und kaum gehen konnten, oder noch Spuren der Pocken an sich hatten, schnell
stark und gesund würden; und es kam jetzt auch viel häufiger vor, daß die
Leute ganz gesund wieder zu ihrem Regiment zurückkehrten.

Es war so eingerichtet, daß die bedeckten Wagen, die neue Convalesscen-
ten brachten, zugleich die, welche fortgingen, beförderten, und sie also nicht
der Kälte und dem ermüdenden Marsche ausgesetzt waren. Eines Tages kam
es nun vor, daß 22 Leute, die mit dem nächstankommenden, angekündigten
Zuge befördert werden sollten, Befehl bekamen, sich für die Reise zu rüsten.
Sie kamen zu mir, um sich alle Arten Unterkleider, wie Socken, Hosen, wollene
Hemden und Jacken zu holen, die wir vorräthig hatten. Auch wollten sie
ihre Brodsäcke versehen und ihre "Feldflaschen" mit Branntwein gefüllt
haben; und dann gaben wir ihnen noch (besonders unsern Lieblingen) Cigar¬
ren, Tabak, Lumpenzucker und geröstete Kaffeebohnen mit. Aber es verging
geraume Zeit und die Wagen kamen nicht; die Abreise wurde also mehrere
Tage verschoben. Als ich in dieser Nacht in den unteren Räumen nachsah,
ob auch alle Lichter aus wären, sah ich einen Soldaten in gespensterhaften
Gewände unschlüssig aus der Treppe stehen. Er sah todtenblaß aus und
schien nicht zu wissen, wo er war. Ich beachtete ihn weiter nicht und setzte
Meinen Weg fort. Als ich wieder herauf kam, stand mein Freund noch immer
auf derselben Stufe. -- "Was wollen Sie, lieber Mann?" Keine Antwort.
"Sind Sie krank?" Dasselbe Schweigen. Ob er nachtwandelte? Es sah so
aus. Ich nahm ihn also an der Hand, führte ihn wieder (er folgte mir ohne
Widerstand) in die Nähe seines Krankensaales und sagte zu ihm: "So, nun
gehen Sie in Ihr Zimmer zurück!" aber der Mensch rührte sich nicht. --
"Bedürfen Sie des Doerors?" Wieder keine Antwort. -- Die Nachtwachen
waren gerade wie die Polizei: sie sind nie bei der Hand, wenn sie am nöthig¬
sten sind. Ich klopfte deßwegen an der Thüre des Chirurgen, erzählte ihm,
was vorgefallen und ging dann hinaus zu Herrn Müller, der unruhig und
fiebernd war. Ich blieb die Hälfte der Nacht bei ihm auf und hörte nichts
Mehr von dem nächtlichen Wanderer. -- Am nächsten Morgen wurde ick zum
Dr. Meyer befohlen. -- "Sie gaben den zweiundzwanzig Leuten, die gestern
Abend abreisen sollten, Branntwein?" fragte er. -- "Ja, Herr Stabsarzt,
Ähren Anordnungen gemäß." -- "Richtig, ich konnte nicht die Folgen voraus¬
haben : es haben nämlich verschiedene unter ihnen den Inhalt ihrer Feldflaschen


GrcnMm 11. 1871. 109

den). Seitdem war die ganze Strecke bis zur nächsten Station Tag und
Nacht mit Wachen versehen.

Unser Militärarzt, der immer erst die Speisen kostete, ehe sie den
Kranken gebracht wurden, sprach mit dankbarer Anerkennung von den Ein¬
richtungen der Frau Schmidt, Und wirklich, auch mir schien, als ob Einige,
die gerade aus den Typhushospitälern blaß und schwach angekommen waren
und kaum gehen konnten, oder noch Spuren der Pocken an sich hatten, schnell
stark und gesund würden; und es kam jetzt auch viel häufiger vor, daß die
Leute ganz gesund wieder zu ihrem Regiment zurückkehrten.

Es war so eingerichtet, daß die bedeckten Wagen, die neue Convalesscen-
ten brachten, zugleich die, welche fortgingen, beförderten, und sie also nicht
der Kälte und dem ermüdenden Marsche ausgesetzt waren. Eines Tages kam
es nun vor, daß 22 Leute, die mit dem nächstankommenden, angekündigten
Zuge befördert werden sollten, Befehl bekamen, sich für die Reise zu rüsten.
Sie kamen zu mir, um sich alle Arten Unterkleider, wie Socken, Hosen, wollene
Hemden und Jacken zu holen, die wir vorräthig hatten. Auch wollten sie
ihre Brodsäcke versehen und ihre „Feldflaschen" mit Branntwein gefüllt
haben; und dann gaben wir ihnen noch (besonders unsern Lieblingen) Cigar¬
ren, Tabak, Lumpenzucker und geröstete Kaffeebohnen mit. Aber es verging
geraume Zeit und die Wagen kamen nicht; die Abreise wurde also mehrere
Tage verschoben. Als ich in dieser Nacht in den unteren Räumen nachsah,
ob auch alle Lichter aus wären, sah ich einen Soldaten in gespensterhaften
Gewände unschlüssig aus der Treppe stehen. Er sah todtenblaß aus und
schien nicht zu wissen, wo er war. Ich beachtete ihn weiter nicht und setzte
Meinen Weg fort. Als ich wieder herauf kam, stand mein Freund noch immer
auf derselben Stufe. — „Was wollen Sie, lieber Mann?" Keine Antwort.
„Sind Sie krank?" Dasselbe Schweigen. Ob er nachtwandelte? Es sah so
aus. Ich nahm ihn also an der Hand, führte ihn wieder (er folgte mir ohne
Widerstand) in die Nähe seines Krankensaales und sagte zu ihm: „So, nun
gehen Sie in Ihr Zimmer zurück!" aber der Mensch rührte sich nicht. —
»Bedürfen Sie des Doerors?" Wieder keine Antwort. — Die Nachtwachen
waren gerade wie die Polizei: sie sind nie bei der Hand, wenn sie am nöthig¬
sten sind. Ich klopfte deßwegen an der Thüre des Chirurgen, erzählte ihm,
was vorgefallen und ging dann hinaus zu Herrn Müller, der unruhig und
fiebernd war. Ich blieb die Hälfte der Nacht bei ihm auf und hörte nichts
Mehr von dem nächtlichen Wanderer. — Am nächsten Morgen wurde ick zum
Dr. Meyer befohlen. — „Sie gaben den zweiundzwanzig Leuten, die gestern
Abend abreisen sollten, Branntwein?" fragte er. — „Ja, Herr Stabsarzt,
Ähren Anordnungen gemäß." — „Richtig, ich konnte nicht die Folgen voraus¬
haben : es haben nämlich verschiedene unter ihnen den Inhalt ihrer Feldflaschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/313>, abgerufen am 06.02.2025.