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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Der "Stabsarzt", welcher zwei Zimmer parterre bewohnte, war ein
Mann von 60 Jahren, sehr groß und mager (die höherstehenden schienen al¬
so alle nicht von dem Fette des Landes zu leben!) klug, gutbelesen und sehr
sprachkundig, aber einsehr strenger Zuchtmeister, dessen erstes Wort immer "das
Gesetz" war. Doch trotzdem hatten sie ihn alle sehr gern, denn er war gütig
und mitfühlend.

Die ersten Tage meines neuen Lebens verstrichen bei sehr unbedeutender
Arbeit, denn da einer der Freiwilligen (der beste unter ihnen) am Typhus
erkrankt und gestorben war, wollten wir vor den Begräbnißfeierlichkeiten keine
Neuerung mehr beginnen. -- Armer junger Mann! er war der einzige Sohn
einer Wittwe, und mußte sein Leben, welches er der Sorge für Andere
gewidmet hatte, in dieser Weise opfern. Es war sonst Regel, daß, sobald
neue Fälle von Typhus oder Pocken kamen, die Kranken in den ersten Stock
nicht weit von den Lazarethen der Schwerkranken gebracht wurden, aber
Heinzemann war nur kurz krank und starb sehr unerwartet.

Am Abend nach dem Begräbnisse kamen der "Stabsarzt" und der
"Verwalter" in unser Wohnzimmer und wir hielten nun "Kriegsrath"
über die Reorganisation. Ich schlug vor, daß die beiden französischen Frauen,
die den Tag 6 Francs bekamen, dabei aber, außer ihrer vollständigen Un¬
wissenheit im Kochen, noch Fehler, wie Faulheit, Unreinlichkeit und Unehr-
lichkeit besaßen, durch zwei genesende Soldaten unter der Obhut von Frau
Schmidt ersetzt werden sollten, und außerdem noch eine ehrliche to-meno ac pAHL
als Scheuerfrau mit täglich 2 Francs angestellt würde. Ferner müsse allen
überflüssigen Freiwilligen unter dem Vorwande, daß ihre Dienste anderswo
nöthig seien, von dem Delegirten der Befehl gegeben werden, abzumarschiren.
Das "Vertrauensvotum" wurde uns ertheilt, und am folgenden Tage fingen
wir mit den Veränderungen an, die sehr gut verliefen. Aber bald wurde
meine Arbeit sehr vergrößert, denn Herr Müller bekam plötzlich das Fieber
und mußte viele Wochen lang im Bette bleiben. Während dessen hatte ich
seine Arbeit zu thun, und außerdem noch ihn zu verpflegen. Durch diesen
Zwischenfall wurde ich verhindert, den Pflichten in unserem anderen Hospital,
dem Chateau Bruyeres, obzuliegen, und lieferte dorthin den Wein und den
Vorrath, welcher verlangt wurde.

Von unseren 60 Patienten waren die meisten gesund genug, um im
Hause herumzugehen und sich Mittags auf der Terrasse zu sonnen. Sie wa¬
ren je nach der Größe der Zimmer einlogirt. Jeder Saal war benutzt; und je
ein Saal stand unter der Aufsicht eines "Zimmercommandanten ", der
für Reinlichkeit, Ordnung und Gehorsam gegen die Vorschriften und auch
für solche Verbrechen, wie Aufbrechen von geschlossenen Schenktischen und Ver¬
derben der Möbel, verantwortlich war. Fünfmal am Tage bekamen die Pa-


Der „Stabsarzt", welcher zwei Zimmer parterre bewohnte, war ein
Mann von 60 Jahren, sehr groß und mager (die höherstehenden schienen al¬
so alle nicht von dem Fette des Landes zu leben!) klug, gutbelesen und sehr
sprachkundig, aber einsehr strenger Zuchtmeister, dessen erstes Wort immer „das
Gesetz" war. Doch trotzdem hatten sie ihn alle sehr gern, denn er war gütig
und mitfühlend.

Die ersten Tage meines neuen Lebens verstrichen bei sehr unbedeutender
Arbeit, denn da einer der Freiwilligen (der beste unter ihnen) am Typhus
erkrankt und gestorben war, wollten wir vor den Begräbnißfeierlichkeiten keine
Neuerung mehr beginnen. — Armer junger Mann! er war der einzige Sohn
einer Wittwe, und mußte sein Leben, welches er der Sorge für Andere
gewidmet hatte, in dieser Weise opfern. Es war sonst Regel, daß, sobald
neue Fälle von Typhus oder Pocken kamen, die Kranken in den ersten Stock
nicht weit von den Lazarethen der Schwerkranken gebracht wurden, aber
Heinzemann war nur kurz krank und starb sehr unerwartet.

Am Abend nach dem Begräbnisse kamen der „Stabsarzt" und der
„Verwalter" in unser Wohnzimmer und wir hielten nun „Kriegsrath"
über die Reorganisation. Ich schlug vor, daß die beiden französischen Frauen,
die den Tag 6 Francs bekamen, dabei aber, außer ihrer vollständigen Un¬
wissenheit im Kochen, noch Fehler, wie Faulheit, Unreinlichkeit und Unehr-
lichkeit besaßen, durch zwei genesende Soldaten unter der Obhut von Frau
Schmidt ersetzt werden sollten, und außerdem noch eine ehrliche to-meno ac pAHL
als Scheuerfrau mit täglich 2 Francs angestellt würde. Ferner müsse allen
überflüssigen Freiwilligen unter dem Vorwande, daß ihre Dienste anderswo
nöthig seien, von dem Delegirten der Befehl gegeben werden, abzumarschiren.
Das „Vertrauensvotum" wurde uns ertheilt, und am folgenden Tage fingen
wir mit den Veränderungen an, die sehr gut verliefen. Aber bald wurde
meine Arbeit sehr vergrößert, denn Herr Müller bekam plötzlich das Fieber
und mußte viele Wochen lang im Bette bleiben. Während dessen hatte ich
seine Arbeit zu thun, und außerdem noch ihn zu verpflegen. Durch diesen
Zwischenfall wurde ich verhindert, den Pflichten in unserem anderen Hospital,
dem Chateau Bruyeres, obzuliegen, und lieferte dorthin den Wein und den
Vorrath, welcher verlangt wurde.

Von unseren 60 Patienten waren die meisten gesund genug, um im
Hause herumzugehen und sich Mittags auf der Terrasse zu sonnen. Sie wa¬
ren je nach der Größe der Zimmer einlogirt. Jeder Saal war benutzt; und je
ein Saal stand unter der Aufsicht eines „Zimmercommandanten ", der
für Reinlichkeit, Ordnung und Gehorsam gegen die Vorschriften und auch
für solche Verbrechen, wie Aufbrechen von geschlossenen Schenktischen und Ver¬
derben der Möbel, verantwortlich war. Fünfmal am Tage bekamen die Pa-


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[0310] Der „Stabsarzt", welcher zwei Zimmer parterre bewohnte, war ein Mann von 60 Jahren, sehr groß und mager (die höherstehenden schienen al¬ so alle nicht von dem Fette des Landes zu leben!) klug, gutbelesen und sehr sprachkundig, aber einsehr strenger Zuchtmeister, dessen erstes Wort immer „das Gesetz" war. Doch trotzdem hatten sie ihn alle sehr gern, denn er war gütig und mitfühlend. Die ersten Tage meines neuen Lebens verstrichen bei sehr unbedeutender Arbeit, denn da einer der Freiwilligen (der beste unter ihnen) am Typhus erkrankt und gestorben war, wollten wir vor den Begräbnißfeierlichkeiten keine Neuerung mehr beginnen. — Armer junger Mann! er war der einzige Sohn einer Wittwe, und mußte sein Leben, welches er der Sorge für Andere gewidmet hatte, in dieser Weise opfern. Es war sonst Regel, daß, sobald neue Fälle von Typhus oder Pocken kamen, die Kranken in den ersten Stock nicht weit von den Lazarethen der Schwerkranken gebracht wurden, aber Heinzemann war nur kurz krank und starb sehr unerwartet. Am Abend nach dem Begräbnisse kamen der „Stabsarzt" und der „Verwalter" in unser Wohnzimmer und wir hielten nun „Kriegsrath" über die Reorganisation. Ich schlug vor, daß die beiden französischen Frauen, die den Tag 6 Francs bekamen, dabei aber, außer ihrer vollständigen Un¬ wissenheit im Kochen, noch Fehler, wie Faulheit, Unreinlichkeit und Unehr- lichkeit besaßen, durch zwei genesende Soldaten unter der Obhut von Frau Schmidt ersetzt werden sollten, und außerdem noch eine ehrliche to-meno ac pAHL als Scheuerfrau mit täglich 2 Francs angestellt würde. Ferner müsse allen überflüssigen Freiwilligen unter dem Vorwande, daß ihre Dienste anderswo nöthig seien, von dem Delegirten der Befehl gegeben werden, abzumarschiren. Das „Vertrauensvotum" wurde uns ertheilt, und am folgenden Tage fingen wir mit den Veränderungen an, die sehr gut verliefen. Aber bald wurde meine Arbeit sehr vergrößert, denn Herr Müller bekam plötzlich das Fieber und mußte viele Wochen lang im Bette bleiben. Während dessen hatte ich seine Arbeit zu thun, und außerdem noch ihn zu verpflegen. Durch diesen Zwischenfall wurde ich verhindert, den Pflichten in unserem anderen Hospital, dem Chateau Bruyeres, obzuliegen, und lieferte dorthin den Wein und den Vorrath, welcher verlangt wurde. Von unseren 60 Patienten waren die meisten gesund genug, um im Hause herumzugehen und sich Mittags auf der Terrasse zu sonnen. Sie wa¬ ren je nach der Größe der Zimmer einlogirt. Jeder Saal war benutzt; und je ein Saal stand unter der Aufsicht eines „Zimmercommandanten ", der für Reinlichkeit, Ordnung und Gehorsam gegen die Vorschriften und auch für solche Verbrechen, wie Aufbrechen von geschlossenen Schenktischen und Ver¬ derben der Möbel, verantwortlich war. Fünfmal am Tage bekamen die Pa-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/310>, abgerufen am 06.02.2025.