Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben und weinen und sterben! -- --
Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!

Angeregt durch diese echt Klopstock'schen "Nachtgedanken", "an dem frem¬
den Feuer gewärmt/', dichtet nun der biedere, hausbackene Voß; die Schablone
bieten die antiken Elegiker; Ton und Bewegung sein deutsches Borbild. Weil
ihm nun die Verse gelingen in der Sprache, die "für ihn dichtet und denkt",
glaubt er Dichter zu sein; er ist Dichter der alten, vorherder'schen Zeit, nach
Herder nichts weiter als "ein wissenschaftlicher Reimer". Also Voß:


Drei auf einmal raubte dein Wink dem seligsten Bunde,
Meine Stolberg' euch, zärtlicher Clauswitz und dich. --
Und so entfliegen sie alle, von: schicksalschwangeren Wetter
Hierhin und dorthin wie Spreu unter die Himmel gestürmt. --
Hölty, du zögerst hier, des Liebenden ängstliches Zögern.
Ach! du lauschest nicht mehr Nachtigalltönen mit uns,
Angeblinkt vom grünlichen Schimmer der purpurnen Sonne
Hinter den Saaten! Der Lenz (1774) raubt dich und Cramer und
Hahn. --
Bürger, ich komme nicht mehr von lachenden Freunden begleitet,
Einsam komm ich und still unter dein ländliches Dach. --

Aber wenn er nun kam, so fand er sicher keinen, der gleich fühlte wie er.
Bürger hat nie in antiken Formen gedichtet. Ihm wollte sogar eine Ueber¬
setzung der Ilias in Hexametern als "das fatalste Geschleppe" und die "un¬
angenehmste Ohrenfolter" erscheinen. Sein Streben war nie die Vossische,
des Studiums bedürftige Dunkelheit und Gesuchtheit. Seit Herder's erstem
Fragment strebte er in allen seinen Schöpfungen nach der Unmittelbarkeit und Ge¬
meinverständlichkeit der Volkssprache.

Von den Naturgaben, die Herder in den Briefen über Ossian von dem
echten Volkssänger erwartete, besaß er mächtig drängend die Sinnlichkeit.
Auch sie stand in schroffem Gegensatz zu den Göttingern, zu ihrem verstiege¬
nen, rigoristischen Tugendheldenthum. Man weiß, wie Bürger zu seinem Un¬
heil von dieser Sinnlichkeit fessellos, maßlos, fast dämonisch beherrscht ward.
Er war jedenfalls den "Schwächungen" der modernen Civilisation nicht er¬
legen.


Naturgang wendet kein Aber und Wenn;
O kalte Vcrnünftler, wie zwinget ihr denn,
Daß Liebe zu lieben verlernet?

Machte ihn nicht Alles zum naiven Volksdichter geschickt? Konnte er nicht
Herder's Ideal am besten verwirklichen?

Zu Anfang hatte er Romanzen gedichtet im Gleim'schen Stil, roh, bur¬
lesk, voll von Obscönitäten, 1771 auf 1772: Die abenteuerliche, doch wahr-


Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben und weinen und sterben! — —
Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!

Angeregt durch diese echt Klopstock'schen „Nachtgedanken", „an dem frem¬
den Feuer gewärmt/', dichtet nun der biedere, hausbackene Voß; die Schablone
bieten die antiken Elegiker; Ton und Bewegung sein deutsches Borbild. Weil
ihm nun die Verse gelingen in der Sprache, die „für ihn dichtet und denkt",
glaubt er Dichter zu sein; er ist Dichter der alten, vorherder'schen Zeit, nach
Herder nichts weiter als „ein wissenschaftlicher Reimer". Also Voß:


Drei auf einmal raubte dein Wink dem seligsten Bunde,
Meine Stolberg' euch, zärtlicher Clauswitz und dich. —
Und so entfliegen sie alle, von: schicksalschwangeren Wetter
Hierhin und dorthin wie Spreu unter die Himmel gestürmt. —
Hölty, du zögerst hier, des Liebenden ängstliches Zögern.
Ach! du lauschest nicht mehr Nachtigalltönen mit uns,
Angeblinkt vom grünlichen Schimmer der purpurnen Sonne
Hinter den Saaten! Der Lenz (1774) raubt dich und Cramer und
Hahn. —
Bürger, ich komme nicht mehr von lachenden Freunden begleitet,
Einsam komm ich und still unter dein ländliches Dach. —

Aber wenn er nun kam, so fand er sicher keinen, der gleich fühlte wie er.
Bürger hat nie in antiken Formen gedichtet. Ihm wollte sogar eine Ueber¬
setzung der Ilias in Hexametern als „das fatalste Geschleppe" und die „un¬
angenehmste Ohrenfolter" erscheinen. Sein Streben war nie die Vossische,
des Studiums bedürftige Dunkelheit und Gesuchtheit. Seit Herder's erstem
Fragment strebte er in allen seinen Schöpfungen nach der Unmittelbarkeit und Ge¬
meinverständlichkeit der Volkssprache.

Von den Naturgaben, die Herder in den Briefen über Ossian von dem
echten Volkssänger erwartete, besaß er mächtig drängend die Sinnlichkeit.
Auch sie stand in schroffem Gegensatz zu den Göttingern, zu ihrem verstiege¬
nen, rigoristischen Tugendheldenthum. Man weiß, wie Bürger zu seinem Un¬
heil von dieser Sinnlichkeit fessellos, maßlos, fast dämonisch beherrscht ward.
Er war jedenfalls den „Schwächungen" der modernen Civilisation nicht er¬
legen.


Naturgang wendet kein Aber und Wenn;
O kalte Vcrnünftler, wie zwinget ihr denn,
Daß Liebe zu lieben verlernet?

Machte ihn nicht Alles zum naiven Volksdichter geschickt? Konnte er nicht
Herder's Ideal am besten verwirklichen?

Zu Anfang hatte er Romanzen gedichtet im Gleim'schen Stil, roh, bur¬
lesk, voll von Obscönitäten, 1771 auf 1772: Die abenteuerliche, doch wahr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192328"/>
          <quote> Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben und weinen und sterben! &#x2014; &#x2014;<lb/>
Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele<lb/>
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_92"> Angeregt durch diese echt Klopstock'schen &#x201E;Nachtgedanken", &#x201E;an dem frem¬<lb/>
den Feuer gewärmt/', dichtet nun der biedere, hausbackene Voß; die Schablone<lb/>
bieten die antiken Elegiker; Ton und Bewegung sein deutsches Borbild. Weil<lb/>
ihm nun die Verse gelingen in der Sprache, die &#x201E;für ihn dichtet und denkt",<lb/>
glaubt er Dichter zu sein; er ist Dichter der alten, vorherder'schen Zeit, nach<lb/>
Herder nichts weiter als &#x201E;ein wissenschaftlicher Reimer".  Also Voß:</p><lb/>
          <quote> Drei auf einmal raubte dein Wink dem seligsten Bunde,<lb/>
Meine Stolberg' euch, zärtlicher Clauswitz und dich. &#x2014;<lb/>
Und so entfliegen sie alle, von: schicksalschwangeren Wetter<lb/>
Hierhin und dorthin wie Spreu unter die Himmel gestürmt. &#x2014;<lb/>
Hölty, du zögerst hier, des Liebenden ängstliches Zögern.<lb/>
Ach! du lauschest nicht mehr Nachtigalltönen mit uns,<lb/>
Angeblinkt vom grünlichen Schimmer der purpurnen Sonne<lb/>
Hinter den Saaten! Der Lenz (1774) raubt dich und Cramer und<lb/>
Hahn. &#x2014;<lb/>
Bürger, ich komme nicht mehr von lachenden Freunden begleitet,<lb/>
Einsam komm ich und still unter dein ländliches Dach. &#x2014;</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_93"> Aber wenn er nun kam, so fand er sicher keinen, der gleich fühlte wie er.<lb/>
Bürger hat nie in antiken Formen gedichtet. Ihm wollte sogar eine Ueber¬<lb/>
setzung der Ilias in Hexametern als &#x201E;das fatalste Geschleppe" und die &#x201E;un¬<lb/>
angenehmste Ohrenfolter" erscheinen. Sein Streben war nie die Vossische,<lb/>
des Studiums bedürftige Dunkelheit und Gesuchtheit. Seit Herder's erstem<lb/>
Fragment strebte er in allen seinen Schöpfungen nach der Unmittelbarkeit und Ge¬<lb/>
meinverständlichkeit der Volkssprache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_94"> Von den Naturgaben, die Herder in den Briefen über Ossian von dem<lb/>
echten Volkssänger erwartete, besaß er mächtig drängend die Sinnlichkeit.<lb/>
Auch sie stand in schroffem Gegensatz zu den Göttingern, zu ihrem verstiege¬<lb/>
nen, rigoristischen Tugendheldenthum. Man weiß, wie Bürger zu seinem Un¬<lb/>
heil von dieser Sinnlichkeit fessellos, maßlos, fast dämonisch beherrscht ward.<lb/>
Er war jedenfalls den &#x201E;Schwächungen" der modernen Civilisation nicht er¬<lb/>
legen.</p><lb/>
          <quote> Naturgang wendet kein Aber und Wenn;<lb/>
O kalte Vcrnünftler, wie zwinget ihr denn,<lb/>
Daß Liebe zu lieben verlernet?</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_95"> Machte ihn nicht Alles zum naiven Volksdichter geschickt? Konnte er nicht<lb/>
Herder's Ideal am besten verwirklichen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_96" next="#ID_97"> Zu Anfang hatte er Romanzen gedichtet im Gleim'schen Stil, roh, bur¬<lb/>
lesk, voll von Obscönitäten, 1771 auf 1772: Die abenteuerliche, doch wahr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben und weinen und sterben! — — Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele Faßt dich, Gedanke, nicht mehr! Angeregt durch diese echt Klopstock'schen „Nachtgedanken", „an dem frem¬ den Feuer gewärmt/', dichtet nun der biedere, hausbackene Voß; die Schablone bieten die antiken Elegiker; Ton und Bewegung sein deutsches Borbild. Weil ihm nun die Verse gelingen in der Sprache, die „für ihn dichtet und denkt", glaubt er Dichter zu sein; er ist Dichter der alten, vorherder'schen Zeit, nach Herder nichts weiter als „ein wissenschaftlicher Reimer". Also Voß: Drei auf einmal raubte dein Wink dem seligsten Bunde, Meine Stolberg' euch, zärtlicher Clauswitz und dich. — Und so entfliegen sie alle, von: schicksalschwangeren Wetter Hierhin und dorthin wie Spreu unter die Himmel gestürmt. — Hölty, du zögerst hier, des Liebenden ängstliches Zögern. Ach! du lauschest nicht mehr Nachtigalltönen mit uns, Angeblinkt vom grünlichen Schimmer der purpurnen Sonne Hinter den Saaten! Der Lenz (1774) raubt dich und Cramer und Hahn. — Bürger, ich komme nicht mehr von lachenden Freunden begleitet, Einsam komm ich und still unter dein ländliches Dach. — Aber wenn er nun kam, so fand er sicher keinen, der gleich fühlte wie er. Bürger hat nie in antiken Formen gedichtet. Ihm wollte sogar eine Ueber¬ setzung der Ilias in Hexametern als „das fatalste Geschleppe" und die „un¬ angenehmste Ohrenfolter" erscheinen. Sein Streben war nie die Vossische, des Studiums bedürftige Dunkelheit und Gesuchtheit. Seit Herder's erstem Fragment strebte er in allen seinen Schöpfungen nach der Unmittelbarkeit und Ge¬ meinverständlichkeit der Volkssprache. Von den Naturgaben, die Herder in den Briefen über Ossian von dem echten Volkssänger erwartete, besaß er mächtig drängend die Sinnlichkeit. Auch sie stand in schroffem Gegensatz zu den Göttingern, zu ihrem verstiege¬ nen, rigoristischen Tugendheldenthum. Man weiß, wie Bürger zu seinem Un¬ heil von dieser Sinnlichkeit fessellos, maßlos, fast dämonisch beherrscht ward. Er war jedenfalls den „Schwächungen" der modernen Civilisation nicht er¬ legen. Naturgang wendet kein Aber und Wenn; O kalte Vcrnünftler, wie zwinget ihr denn, Daß Liebe zu lieben verlernet? Machte ihn nicht Alles zum naiven Volksdichter geschickt? Konnte er nicht Herder's Ideal am besten verwirklichen? Zu Anfang hatte er Romanzen gedichtet im Gleim'schen Stil, roh, bur¬ lesk, voll von Obscönitäten, 1771 auf 1772: Die abenteuerliche, doch wahr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/28
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/28>, abgerufen am 05.02.2025.