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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Vor nun 24 Jahren hatte Leopold von Ranke, der Historiker des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Spanien, Italien, Deutschland,
Frankreich und England auch schon einmal ein Stück der neueren politischen
Entwicklung von Deutschland geschildert, den eigentlichen Werdeproceß des
preußischen Staates. Seine "Neun Bücher preußischer Geschichte" hoben in
kurzer Uebersicht die Momente der Entwicklung Preußens hervor und ver¬
weilten dann in eingehenderer Erörterung bei denjenigen Thaten Friedrichs II.,
welche die Machtstellung Preußens begründet und befestigt hatten. Zwar
war diesem Buche nicht der ungetheilte Beifall geworden, der sonst Ranke's
Leistungen begleitet, jedoch konnte kein Sachverständiger den feinen Blick, die
umsichtige Erwägung, die glückliche Forschung, das gereifte Urtheil des Mei¬
sters verkennen: oft ist bedauert worden, daß beim Jahre 1756 Ranke ab¬
gebrochen hat. Wir unsererseits haben immer der Hoffnung gelebt, es werde
Ranke uns noch mit einer Fortsetzung seiner Studien auf diesem Gebiete er¬
freuen. Und welchen außerordentlichen Genuß die Behandlung aller der na¬
tionalen politischen, socialen, literarischen Gegensätze und Parteikämpfe, die
das Jahrhundert nach 1756 bewegt haben, von der Feder eines so unbefan¬
genen und objectiven Historikers verspricht: das, meinen wir, konnten die¬
jenigen ermessen, welche den akademischen Vorträgen Ranke's über diese
neueren Perioden beigewohnt haben. Auch wo unsere eigene Auffassung der
Dinge, unser eigenes, weit entschiedener Partei ergreifendes Urtheil von der
Anschauungsweise Ranke's abweicht, ja vielleicht geradezu ihr entgegentreten
müßte, auch da werden wir von Ranke lernen und aus seiner Darstellung
unendlichen Nutzen ziehen können.

Wir haben öfters die Aeußerung gehört, ja, es ist auch wohl öffentlich
schon ausgesprochen worden, daß man auf dem Gebiete der Revolutions¬
geschichte, der Freiheitskriege Ranke lieber nicht begegnen würde. Wir sind
durchaus entgegengesetzter Meinung. Wir hoffen, daß Ranke's Studien über
die preußische und deutsche Geschichte seit 1756 recht weit auch ins 19. Jahr¬
hundert hinein sich erstrecken. Wir begrüßen mit Freuden einzelne jetzt schon
vorliegende Andeutungen, daß dies eben erschienene Buch über die Jahre
1780--1790 ein Bruchstück, ein Ausschnitt aus weiteren Arbeiten ist. Es
heißt ja schon seit mehreren Jahren, Ranke beabsichtige eine umfassende Ge¬
schichte Hardenberg's; und ein gutes Stück europäischer Diplomatie bis 1822
würde dies umschließen. Wir sind auf's lebhafteste gespannt zu erfahren,
welches Urtheil Ranke über die Haltung der deutschen Mächte 1792--1797
nach eigenem Studium der Acten fällen, wie er den unter auswärtigen Krie¬
gen sich vollendenden Auflösungsproceß des alten deutschen Reiches ansehen
will. Auch neben und nach den genialen Arbeiten Sybel's sind wir bereit,
das kühlere Plaidoyer Ranke's anzuhören: grade die Monographischen


Vor nun 24 Jahren hatte Leopold von Ranke, der Historiker des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Spanien, Italien, Deutschland,
Frankreich und England auch schon einmal ein Stück der neueren politischen
Entwicklung von Deutschland geschildert, den eigentlichen Werdeproceß des
preußischen Staates. Seine „Neun Bücher preußischer Geschichte" hoben in
kurzer Uebersicht die Momente der Entwicklung Preußens hervor und ver¬
weilten dann in eingehenderer Erörterung bei denjenigen Thaten Friedrichs II.,
welche die Machtstellung Preußens begründet und befestigt hatten. Zwar
war diesem Buche nicht der ungetheilte Beifall geworden, der sonst Ranke's
Leistungen begleitet, jedoch konnte kein Sachverständiger den feinen Blick, die
umsichtige Erwägung, die glückliche Forschung, das gereifte Urtheil des Mei¬
sters verkennen: oft ist bedauert worden, daß beim Jahre 1756 Ranke ab¬
gebrochen hat. Wir unsererseits haben immer der Hoffnung gelebt, es werde
Ranke uns noch mit einer Fortsetzung seiner Studien auf diesem Gebiete er¬
freuen. Und welchen außerordentlichen Genuß die Behandlung aller der na¬
tionalen politischen, socialen, literarischen Gegensätze und Parteikämpfe, die
das Jahrhundert nach 1756 bewegt haben, von der Feder eines so unbefan¬
genen und objectiven Historikers verspricht: das, meinen wir, konnten die¬
jenigen ermessen, welche den akademischen Vorträgen Ranke's über diese
neueren Perioden beigewohnt haben. Auch wo unsere eigene Auffassung der
Dinge, unser eigenes, weit entschiedener Partei ergreifendes Urtheil von der
Anschauungsweise Ranke's abweicht, ja vielleicht geradezu ihr entgegentreten
müßte, auch da werden wir von Ranke lernen und aus seiner Darstellung
unendlichen Nutzen ziehen können.

Wir haben öfters die Aeußerung gehört, ja, es ist auch wohl öffentlich
schon ausgesprochen worden, daß man auf dem Gebiete der Revolutions¬
geschichte, der Freiheitskriege Ranke lieber nicht begegnen würde. Wir sind
durchaus entgegengesetzter Meinung. Wir hoffen, daß Ranke's Studien über
die preußische und deutsche Geschichte seit 1756 recht weit auch ins 19. Jahr¬
hundert hinein sich erstrecken. Wir begrüßen mit Freuden einzelne jetzt schon
vorliegende Andeutungen, daß dies eben erschienene Buch über die Jahre
1780—1790 ein Bruchstück, ein Ausschnitt aus weiteren Arbeiten ist. Es
heißt ja schon seit mehreren Jahren, Ranke beabsichtige eine umfassende Ge¬
schichte Hardenberg's; und ein gutes Stück europäischer Diplomatie bis 1822
würde dies umschließen. Wir sind auf's lebhafteste gespannt zu erfahren,
welches Urtheil Ranke über die Haltung der deutschen Mächte 1792—1797
nach eigenem Studium der Acten fällen, wie er den unter auswärtigen Krie¬
gen sich vollendenden Auflösungsproceß des alten deutschen Reiches ansehen
will. Auch neben und nach den genialen Arbeiten Sybel's sind wir bereit,
das kühlere Plaidoyer Ranke's anzuhören: grade die Monographischen


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[0224] Vor nun 24 Jahren hatte Leopold von Ranke, der Historiker des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich und England auch schon einmal ein Stück der neueren politischen Entwicklung von Deutschland geschildert, den eigentlichen Werdeproceß des preußischen Staates. Seine „Neun Bücher preußischer Geschichte" hoben in kurzer Uebersicht die Momente der Entwicklung Preußens hervor und ver¬ weilten dann in eingehenderer Erörterung bei denjenigen Thaten Friedrichs II., welche die Machtstellung Preußens begründet und befestigt hatten. Zwar war diesem Buche nicht der ungetheilte Beifall geworden, der sonst Ranke's Leistungen begleitet, jedoch konnte kein Sachverständiger den feinen Blick, die umsichtige Erwägung, die glückliche Forschung, das gereifte Urtheil des Mei¬ sters verkennen: oft ist bedauert worden, daß beim Jahre 1756 Ranke ab¬ gebrochen hat. Wir unsererseits haben immer der Hoffnung gelebt, es werde Ranke uns noch mit einer Fortsetzung seiner Studien auf diesem Gebiete er¬ freuen. Und welchen außerordentlichen Genuß die Behandlung aller der na¬ tionalen politischen, socialen, literarischen Gegensätze und Parteikämpfe, die das Jahrhundert nach 1756 bewegt haben, von der Feder eines so unbefan¬ genen und objectiven Historikers verspricht: das, meinen wir, konnten die¬ jenigen ermessen, welche den akademischen Vorträgen Ranke's über diese neueren Perioden beigewohnt haben. Auch wo unsere eigene Auffassung der Dinge, unser eigenes, weit entschiedener Partei ergreifendes Urtheil von der Anschauungsweise Ranke's abweicht, ja vielleicht geradezu ihr entgegentreten müßte, auch da werden wir von Ranke lernen und aus seiner Darstellung unendlichen Nutzen ziehen können. Wir haben öfters die Aeußerung gehört, ja, es ist auch wohl öffentlich schon ausgesprochen worden, daß man auf dem Gebiete der Revolutions¬ geschichte, der Freiheitskriege Ranke lieber nicht begegnen würde. Wir sind durchaus entgegengesetzter Meinung. Wir hoffen, daß Ranke's Studien über die preußische und deutsche Geschichte seit 1756 recht weit auch ins 19. Jahr¬ hundert hinein sich erstrecken. Wir begrüßen mit Freuden einzelne jetzt schon vorliegende Andeutungen, daß dies eben erschienene Buch über die Jahre 1780—1790 ein Bruchstück, ein Ausschnitt aus weiteren Arbeiten ist. Es heißt ja schon seit mehreren Jahren, Ranke beabsichtige eine umfassende Ge¬ schichte Hardenberg's; und ein gutes Stück europäischer Diplomatie bis 1822 würde dies umschließen. Wir sind auf's lebhafteste gespannt zu erfahren, welches Urtheil Ranke über die Haltung der deutschen Mächte 1792—1797 nach eigenem Studium der Acten fällen, wie er den unter auswärtigen Krie¬ gen sich vollendenden Auflösungsproceß des alten deutschen Reiches ansehen will. Auch neben und nach den genialen Arbeiten Sybel's sind wir bereit, das kühlere Plaidoyer Ranke's anzuhören: grade die Monographischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/224>, abgerufen am 06.02.2025.