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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Rede hingeworfenen Anregungen ging zum Theil unmittelbar, zum Theil
durch Vermittelung des Goethe'schen Götz und Faust, Bürger's und des Ma¬
lers Miller, wie der Musäus'schen Volksmärchen die romantische Schule, aus
ihnen die germanistische Philologie, aus ihnen die Schlegel'schen und Grimm-
schen Brüder, Tieck, Schelling und Hegel, aus ihnen die Erweiterung unseres
Schriftwesens bis an das Thor der Weltliteratur, aus ihnen aber auch die
Erweckung und Befreiung des nationalen Selbstgefühls hervor: unsere großen,
die Poesien aller Zeiten und Nationen nachbildenden Uebersetzer, ebenso wie
die deutschen Patrioten Arndt, Jahr und Fichte sind von Herder'schen Ge¬
danken angeregt und durchdrungen.

Und daneben nun diese vornehme Weise Goethe's, die dem unendlich
verdienstvollen Manne nicht einmal klar, rein und uneingeschränkt den Dank
zollt, den er ihm persönlich schuldete: es ist recht verdrießlich, verdrießlich,
weil ihm dadurch die Anerkennung der Nation verkümmert ist.

Man kann sich ja denken, wie Goethe darauf kam, so über Herder zu
berichten. Er deutet's in den beigefügten Reflexionen über "Nichtdankbarkeit,
Undank und Widerwillen gegen den Dank" selbst an: "Ich bin von Natur
so wenig dankbar, als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes
Gutes konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißver¬
hältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten/'

Man weiß, daß sich später zwischen ihm und Herder allerdings ein
"Mißverhältniß" herausbildete. Und es läßt sich nicht verkennen, wieviel
Schuld daran Herder hatte. Auch uns ärgert ja, wenn der Alte aus hämi¬
scher Mißgunst gegen den neuen durch Goethe, Schiller und Kant bewirkten
Aufschwung deutscher Bildung, weil man jetzt ohne ihn auszukommen wußte,
sich in absichtliche Ueberschätzung der alten, abgelebten Literatur verlor, die
er einst selbst so stürmisch angerannt hatte.

Aber darüber darf die Nation jedenfalls nicht der unendlichen Ver¬
dienste vergessen, die der jugendliche, alle Tiefen aufwühlende Herder in den
ersten zwölf Jahren seiner literarischen Wirksamkeit um die Neugestaltung und
Erfrischung des verbildeten und verkommenen Nationalgeistes sich erworben hat.

Eine Seite seiner reichen und fruchtbringenden regenerirenden Thätigkeit
haben die obigen Zeilen behandelt; sie wollten ein bescheidener Beitrag zu
dem Danke sein, welchen das deutsche Volk dem Namen eines Mannes schul¬
det, den eigene spätere Verirrungen und die übelgestimmte Darstellung seines
größten Schülers mit Unrecht in Vergessenheit gedrückt haben.





Rede hingeworfenen Anregungen ging zum Theil unmittelbar, zum Theil
durch Vermittelung des Goethe'schen Götz und Faust, Bürger's und des Ma¬
lers Miller, wie der Musäus'schen Volksmärchen die romantische Schule, aus
ihnen die germanistische Philologie, aus ihnen die Schlegel'schen und Grimm-
schen Brüder, Tieck, Schelling und Hegel, aus ihnen die Erweiterung unseres
Schriftwesens bis an das Thor der Weltliteratur, aus ihnen aber auch die
Erweckung und Befreiung des nationalen Selbstgefühls hervor: unsere großen,
die Poesien aller Zeiten und Nationen nachbildenden Uebersetzer, ebenso wie
die deutschen Patrioten Arndt, Jahr und Fichte sind von Herder'schen Ge¬
danken angeregt und durchdrungen.

Und daneben nun diese vornehme Weise Goethe's, die dem unendlich
verdienstvollen Manne nicht einmal klar, rein und uneingeschränkt den Dank
zollt, den er ihm persönlich schuldete: es ist recht verdrießlich, verdrießlich,
weil ihm dadurch die Anerkennung der Nation verkümmert ist.

Man kann sich ja denken, wie Goethe darauf kam, so über Herder zu
berichten. Er deutet's in den beigefügten Reflexionen über „Nichtdankbarkeit,
Undank und Widerwillen gegen den Dank" selbst an: „Ich bin von Natur
so wenig dankbar, als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes
Gutes konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißver¬
hältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten/'

Man weiß, daß sich später zwischen ihm und Herder allerdings ein
„Mißverhältniß" herausbildete. Und es läßt sich nicht verkennen, wieviel
Schuld daran Herder hatte. Auch uns ärgert ja, wenn der Alte aus hämi¬
scher Mißgunst gegen den neuen durch Goethe, Schiller und Kant bewirkten
Aufschwung deutscher Bildung, weil man jetzt ohne ihn auszukommen wußte,
sich in absichtliche Ueberschätzung der alten, abgelebten Literatur verlor, die
er einst selbst so stürmisch angerannt hatte.

Aber darüber darf die Nation jedenfalls nicht der unendlichen Ver¬
dienste vergessen, die der jugendliche, alle Tiefen aufwühlende Herder in den
ersten zwölf Jahren seiner literarischen Wirksamkeit um die Neugestaltung und
Erfrischung des verbildeten und verkommenen Nationalgeistes sich erworben hat.

Eine Seite seiner reichen und fruchtbringenden regenerirenden Thätigkeit
haben die obigen Zeilen behandelt; sie wollten ein bescheidener Beitrag zu
dem Danke sein, welchen das deutsche Volk dem Namen eines Mannes schul¬
det, den eigene spätere Verirrungen und die übelgestimmte Darstellung seines
größten Schülers mit Unrecht in Vergessenheit gedrückt haben.





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[0110] Rede hingeworfenen Anregungen ging zum Theil unmittelbar, zum Theil durch Vermittelung des Goethe'schen Götz und Faust, Bürger's und des Ma¬ lers Miller, wie der Musäus'schen Volksmärchen die romantische Schule, aus ihnen die germanistische Philologie, aus ihnen die Schlegel'schen und Grimm- schen Brüder, Tieck, Schelling und Hegel, aus ihnen die Erweiterung unseres Schriftwesens bis an das Thor der Weltliteratur, aus ihnen aber auch die Erweckung und Befreiung des nationalen Selbstgefühls hervor: unsere großen, die Poesien aller Zeiten und Nationen nachbildenden Uebersetzer, ebenso wie die deutschen Patrioten Arndt, Jahr und Fichte sind von Herder'schen Ge¬ danken angeregt und durchdrungen. Und daneben nun diese vornehme Weise Goethe's, die dem unendlich verdienstvollen Manne nicht einmal klar, rein und uneingeschränkt den Dank zollt, den er ihm persönlich schuldete: es ist recht verdrießlich, verdrießlich, weil ihm dadurch die Anerkennung der Nation verkümmert ist. Man kann sich ja denken, wie Goethe darauf kam, so über Herder zu berichten. Er deutet's in den beigefügten Reflexionen über „Nichtdankbarkeit, Undank und Widerwillen gegen den Dank" selbst an: „Ich bin von Natur so wenig dankbar, als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes Gutes konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißver¬ hältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten/' Man weiß, daß sich später zwischen ihm und Herder allerdings ein „Mißverhältniß" herausbildete. Und es läßt sich nicht verkennen, wieviel Schuld daran Herder hatte. Auch uns ärgert ja, wenn der Alte aus hämi¬ scher Mißgunst gegen den neuen durch Goethe, Schiller und Kant bewirkten Aufschwung deutscher Bildung, weil man jetzt ohne ihn auszukommen wußte, sich in absichtliche Ueberschätzung der alten, abgelebten Literatur verlor, die er einst selbst so stürmisch angerannt hatte. Aber darüber darf die Nation jedenfalls nicht der unendlichen Ver¬ dienste vergessen, die der jugendliche, alle Tiefen aufwühlende Herder in den ersten zwölf Jahren seiner literarischen Wirksamkeit um die Neugestaltung und Erfrischung des verbildeten und verkommenen Nationalgeistes sich erworben hat. Eine Seite seiner reichen und fruchtbringenden regenerirenden Thätigkeit haben die obigen Zeilen behandelt; sie wollten ein bescheidener Beitrag zu dem Danke sein, welchen das deutsche Volk dem Namen eines Mannes schul¬ det, den eigene spätere Verirrungen und die übelgestimmte Darstellung seines größten Schülers mit Unrecht in Vergessenheit gedrückt haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/110>, abgerufen am 05.02.2025.