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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Oper zu hören ist, sondern jenen mehrstimmigen Gesang, der möglich wird,
wenn Verwandte und Freunde sich zufällig zusammenfinden, die gute Stim¬
men, gutes Gehör, die unerläßlich nöthige Trefffähigkeit und Luft an der'
Sache haben. Es ist dann nicht ausgeschlossen, daß auch einzelne Stimmen
doppelt besetzt sein können.

Die Pflege des mehrstimmigen Gesangs in der Familie war in früheren
Jahrhunderten eine viel regere als sie es im gegenwärtigen ist. Dafür zeugen
außer zahlreichen Werken der Malerei, in denen uns so lebendige und rei¬
zende Schilderungen davon aufbewahrt blieben, die sehr vielen praktischen
Liedersammlungen, die wir aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch besitzen.
Derartiger häuslicher Gesang war damals um so mehr Bedürfniß, als Frauen
bei öffentlichen Gelegenheiten nie austreten konnten, Gesangvereine, Kirchen¬
chöre und Opern nach unsern Begriffen gar nicht denkbar waren, die Musik¬
übung des weiblichen Geschlechtes überhaupt nur auf den Familienkreis be¬
schränkt blieb. Die Verhältnisse änderten sich jedoch in dem Augenblicke, wo
Frauen als Gesangskünstlerinnen vor das Publicum traten. Die trauten
Kreise des Hauses verloren von da ab ihre bescheidene Genügsamkeit. Kunst¬
volle Cantaten und Arien, mit denen italienische Primadonnen die Gesell¬
schaft zu bezaubern und die Männerwelt zu berücken wußten, überstiegen
dilettantische Kräfte, Die Familie gab in Folge dessen leider die eigene
Kunstübung auf und begnügte sich fortan, fremden Leistungen zuzuhören, Die
Opernmusik verdrängte allmälig die Hausmusik. Wir konnten in unserer Zeit
eine ähnliche Beobachtung machen. Seitdem die Kammermusik zur Concert¬
musik wurde, berühmte Quartettgesellschaften von Stadt zu Stadt reisen,
fürstliche und städtische Capellen Sinsonie-Aufführungen veranstalten, haben
die Dilettantenquartette und Dilettanten-Orchester fast ganz aufgehört. Der
Abstand zwischen dilettantischen und künstlerischen Leistungen wurde doch zuletzt
ein zu auffallender und bemerkbarer. Unlustig und verstimmt legte der Dilet¬
tantismus seine Instrumente aus der Hand und zog sich schmollend und selbst¬
genügsam hinter das Clavier und in den Kreis der Hörer zurück Die Kunst
im Allgemeinen verlor dadurch allerdings wenig; sie kann nur gewinnen,
wenn ihre Leistungen möglichster Vollendung näher rücken, aber die allge¬
meine Kunstpflege erscheint schmerzlich geschädigt, seitdem die Uebung gewisser
Kunstbranchen Monopol einzelner Gesellschaften wurde.

Man muß im 16. und 17. Jahrhundert außerordentlich gesangslustig
gewesen sein, und zwar gleicherweise in den Niederlanden, in Welschland, in
Frankreich, in England und in Deutschland. Nachdem man die seit 1488
übliche schwerfällige Art, Noten mittelst Holztafeln zu drucken, überwunden
hatte, und durch die bewundernswürdige Erfindung des Ottaviano de
Petrucei, Bürger zu Fosfombrone im Kirchenstaate (geb. 18. Juni 1466,


Oper zu hören ist, sondern jenen mehrstimmigen Gesang, der möglich wird,
wenn Verwandte und Freunde sich zufällig zusammenfinden, die gute Stim¬
men, gutes Gehör, die unerläßlich nöthige Trefffähigkeit und Luft an der'
Sache haben. Es ist dann nicht ausgeschlossen, daß auch einzelne Stimmen
doppelt besetzt sein können.

Die Pflege des mehrstimmigen Gesangs in der Familie war in früheren
Jahrhunderten eine viel regere als sie es im gegenwärtigen ist. Dafür zeugen
außer zahlreichen Werken der Malerei, in denen uns so lebendige und rei¬
zende Schilderungen davon aufbewahrt blieben, die sehr vielen praktischen
Liedersammlungen, die wir aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch besitzen.
Derartiger häuslicher Gesang war damals um so mehr Bedürfniß, als Frauen
bei öffentlichen Gelegenheiten nie austreten konnten, Gesangvereine, Kirchen¬
chöre und Opern nach unsern Begriffen gar nicht denkbar waren, die Musik¬
übung des weiblichen Geschlechtes überhaupt nur auf den Familienkreis be¬
schränkt blieb. Die Verhältnisse änderten sich jedoch in dem Augenblicke, wo
Frauen als Gesangskünstlerinnen vor das Publicum traten. Die trauten
Kreise des Hauses verloren von da ab ihre bescheidene Genügsamkeit. Kunst¬
volle Cantaten und Arien, mit denen italienische Primadonnen die Gesell¬
schaft zu bezaubern und die Männerwelt zu berücken wußten, überstiegen
dilettantische Kräfte, Die Familie gab in Folge dessen leider die eigene
Kunstübung auf und begnügte sich fortan, fremden Leistungen zuzuhören, Die
Opernmusik verdrängte allmälig die Hausmusik. Wir konnten in unserer Zeit
eine ähnliche Beobachtung machen. Seitdem die Kammermusik zur Concert¬
musik wurde, berühmte Quartettgesellschaften von Stadt zu Stadt reisen,
fürstliche und städtische Capellen Sinsonie-Aufführungen veranstalten, haben
die Dilettantenquartette und Dilettanten-Orchester fast ganz aufgehört. Der
Abstand zwischen dilettantischen und künstlerischen Leistungen wurde doch zuletzt
ein zu auffallender und bemerkbarer. Unlustig und verstimmt legte der Dilet¬
tantismus seine Instrumente aus der Hand und zog sich schmollend und selbst¬
genügsam hinter das Clavier und in den Kreis der Hörer zurück Die Kunst
im Allgemeinen verlor dadurch allerdings wenig; sie kann nur gewinnen,
wenn ihre Leistungen möglichster Vollendung näher rücken, aber die allge¬
meine Kunstpflege erscheint schmerzlich geschädigt, seitdem die Uebung gewisser
Kunstbranchen Monopol einzelner Gesellschaften wurde.

Man muß im 16. und 17. Jahrhundert außerordentlich gesangslustig
gewesen sein, und zwar gleicherweise in den Niederlanden, in Welschland, in
Frankreich, in England und in Deutschland. Nachdem man die seit 1488
übliche schwerfällige Art, Noten mittelst Holztafeln zu drucken, überwunden
hatte, und durch die bewundernswürdige Erfindung des Ottaviano de
Petrucei, Bürger zu Fosfombrone im Kirchenstaate (geb. 18. Juni 1466,


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[0420] Oper zu hören ist, sondern jenen mehrstimmigen Gesang, der möglich wird, wenn Verwandte und Freunde sich zufällig zusammenfinden, die gute Stim¬ men, gutes Gehör, die unerläßlich nöthige Trefffähigkeit und Luft an der' Sache haben. Es ist dann nicht ausgeschlossen, daß auch einzelne Stimmen doppelt besetzt sein können. Die Pflege des mehrstimmigen Gesangs in der Familie war in früheren Jahrhunderten eine viel regere als sie es im gegenwärtigen ist. Dafür zeugen außer zahlreichen Werken der Malerei, in denen uns so lebendige und rei¬ zende Schilderungen davon aufbewahrt blieben, die sehr vielen praktischen Liedersammlungen, die wir aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch besitzen. Derartiger häuslicher Gesang war damals um so mehr Bedürfniß, als Frauen bei öffentlichen Gelegenheiten nie austreten konnten, Gesangvereine, Kirchen¬ chöre und Opern nach unsern Begriffen gar nicht denkbar waren, die Musik¬ übung des weiblichen Geschlechtes überhaupt nur auf den Familienkreis be¬ schränkt blieb. Die Verhältnisse änderten sich jedoch in dem Augenblicke, wo Frauen als Gesangskünstlerinnen vor das Publicum traten. Die trauten Kreise des Hauses verloren von da ab ihre bescheidene Genügsamkeit. Kunst¬ volle Cantaten und Arien, mit denen italienische Primadonnen die Gesell¬ schaft zu bezaubern und die Männerwelt zu berücken wußten, überstiegen dilettantische Kräfte, Die Familie gab in Folge dessen leider die eigene Kunstübung auf und begnügte sich fortan, fremden Leistungen zuzuhören, Die Opernmusik verdrängte allmälig die Hausmusik. Wir konnten in unserer Zeit eine ähnliche Beobachtung machen. Seitdem die Kammermusik zur Concert¬ musik wurde, berühmte Quartettgesellschaften von Stadt zu Stadt reisen, fürstliche und städtische Capellen Sinsonie-Aufführungen veranstalten, haben die Dilettantenquartette und Dilettanten-Orchester fast ganz aufgehört. Der Abstand zwischen dilettantischen und künstlerischen Leistungen wurde doch zuletzt ein zu auffallender und bemerkbarer. Unlustig und verstimmt legte der Dilet¬ tantismus seine Instrumente aus der Hand und zog sich schmollend und selbst¬ genügsam hinter das Clavier und in den Kreis der Hörer zurück Die Kunst im Allgemeinen verlor dadurch allerdings wenig; sie kann nur gewinnen, wenn ihre Leistungen möglichster Vollendung näher rücken, aber die allge¬ meine Kunstpflege erscheint schmerzlich geschädigt, seitdem die Uebung gewisser Kunstbranchen Monopol einzelner Gesellschaften wurde. Man muß im 16. und 17. Jahrhundert außerordentlich gesangslustig gewesen sein, und zwar gleicherweise in den Niederlanden, in Welschland, in Frankreich, in England und in Deutschland. Nachdem man die seit 1488 übliche schwerfällige Art, Noten mittelst Holztafeln zu drucken, überwunden hatte, und durch die bewundernswürdige Erfindung des Ottaviano de Petrucei, Bürger zu Fosfombrone im Kirchenstaate (geb. 18. Juni 1466,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/420>, abgerufen am 24.07.2024.