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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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In den vierziger Jahren, als die socialistischen Ideen in Frankreich wie
ein üppiges Kraut emporschössen, drangen sie auch nach Deutschland. Aehn-
lich wie in Frankreich war es auch bei uns vornehmlich die politische Blasirt-
heit, welche diesen Ideen den Boden bereitete. An politischer Thätigkeit hatte
es in Frankreich nicht gefehlt, wenn auch auf dem verkehrtesten Wege. In
Deutschland hatte man sich eigentlich bloß an der politischen Theorie abge¬
arbeitet. Aber auch davon war man erschöpft, denn der Mensch wird jeder
Theorie müde, die er nicht die Möglichkeit oder das Geschick hat, an der
Praxis zu erproben. Auch in Deutschland versuchten jetzt die beweglichsten
Köpfe, aus einer neuen verwegenen Theorie die Kraft zu schöpfen, welche sie
der so viel beredeten und besungenen Freiheit, dem Ideal des Staats, nicht
hatten zur Verfügung stellen können.. Die sociale Theorie schien etwas an¬
deres zu sein als eine gewöhnliche Theorie. Sie schien eine Theorie, die den
Schrecken vor sich her trägt und damit die unmittelbare Kraft der Bewegung.

Im Februar 1848 wurde in Paris wieder einmal eine Revolution ge¬
macht, nicht kraft des der socialen Theorie eigenthümlichen Schreckens, son¬
dern weil seit 1789 in Paris die Revolutionen sich überhaupt leicht machen:
vermöge der Langeweile, welche dem großen Publieum eine Staatsumwälzung
zur willkommenen Abwechselung macht, vermöge des Ueberflusses an Aben¬
teurern, welche die Gefahr der Usurpation auf sich nehmen, und vermöge des
schlechten Gewissens, welches jede dortige Regierung hat und welches ihr sagt,
daß sie nicht der historisch gewurzelte Haupttheil der Nationalkraft, sondern
selbst eine Usurpation von gestern ist.

Die Bewegung Frankreichs pflanzte sich nach Deutschland fort, aber hier
wie dort zeigte sich, daß die sociale Theorie eine Waffe ist, mit der man spie¬
len, aber die man nicht gebrauchen kann. Noch weniger als in Frankreich
ging die Bewegung in Deutschland socialistische Bahnen.

Das Ende der revolutionären Gährung, welche das Jahr 1848 von
Frankreich aus über Italien, Deutschland und Oestreich verbreitet hatte, sah
in diesen Ländern mehr oder minder unverhüllt den Absolutismus gewalt¬
thätiger sich erheben, als er vor dem Beginn der Bewegung lange Jahre
aufzutreten gewagt hatte. In London war es, wo die Flüchtlinge aller Na¬
tionen des Continentes, welche gehofft hatten, eine neue Zeit zu erleben, sich
zusammenfanden. Mannigfaltig wie die Ursachen ihres Märtyrerthums ist die
Entwickelung der politischen Flüchtlinge. Viele entsagen dem Dienst der mehr
oder minder unreifen Idee, der sie sich geopfert, und treten da oder dort in
den regelmäßigen Beruf der Gesellschaft. Viele gehen unter. Manche folgen
der Entwicklung, welche in der Heimath nach momentaner Niederlage neue
Wege sucht, und schließen sich früher oder später diesen Wegen an. Andere
wieder werden Narren des Hasses, geckenhafte und phantastische Comödian-


In den vierziger Jahren, als die socialistischen Ideen in Frankreich wie
ein üppiges Kraut emporschössen, drangen sie auch nach Deutschland. Aehn-
lich wie in Frankreich war es auch bei uns vornehmlich die politische Blasirt-
heit, welche diesen Ideen den Boden bereitete. An politischer Thätigkeit hatte
es in Frankreich nicht gefehlt, wenn auch auf dem verkehrtesten Wege. In
Deutschland hatte man sich eigentlich bloß an der politischen Theorie abge¬
arbeitet. Aber auch davon war man erschöpft, denn der Mensch wird jeder
Theorie müde, die er nicht die Möglichkeit oder das Geschick hat, an der
Praxis zu erproben. Auch in Deutschland versuchten jetzt die beweglichsten
Köpfe, aus einer neuen verwegenen Theorie die Kraft zu schöpfen, welche sie
der so viel beredeten und besungenen Freiheit, dem Ideal des Staats, nicht
hatten zur Verfügung stellen können.. Die sociale Theorie schien etwas an¬
deres zu sein als eine gewöhnliche Theorie. Sie schien eine Theorie, die den
Schrecken vor sich her trägt und damit die unmittelbare Kraft der Bewegung.

Im Februar 1848 wurde in Paris wieder einmal eine Revolution ge¬
macht, nicht kraft des der socialen Theorie eigenthümlichen Schreckens, son¬
dern weil seit 1789 in Paris die Revolutionen sich überhaupt leicht machen:
vermöge der Langeweile, welche dem großen Publieum eine Staatsumwälzung
zur willkommenen Abwechselung macht, vermöge des Ueberflusses an Aben¬
teurern, welche die Gefahr der Usurpation auf sich nehmen, und vermöge des
schlechten Gewissens, welches jede dortige Regierung hat und welches ihr sagt,
daß sie nicht der historisch gewurzelte Haupttheil der Nationalkraft, sondern
selbst eine Usurpation von gestern ist.

Die Bewegung Frankreichs pflanzte sich nach Deutschland fort, aber hier
wie dort zeigte sich, daß die sociale Theorie eine Waffe ist, mit der man spie¬
len, aber die man nicht gebrauchen kann. Noch weniger als in Frankreich
ging die Bewegung in Deutschland socialistische Bahnen.

Das Ende der revolutionären Gährung, welche das Jahr 1848 von
Frankreich aus über Italien, Deutschland und Oestreich verbreitet hatte, sah
in diesen Ländern mehr oder minder unverhüllt den Absolutismus gewalt¬
thätiger sich erheben, als er vor dem Beginn der Bewegung lange Jahre
aufzutreten gewagt hatte. In London war es, wo die Flüchtlinge aller Na¬
tionen des Continentes, welche gehofft hatten, eine neue Zeit zu erleben, sich
zusammenfanden. Mannigfaltig wie die Ursachen ihres Märtyrerthums ist die
Entwickelung der politischen Flüchtlinge. Viele entsagen dem Dienst der mehr
oder minder unreifen Idee, der sie sich geopfert, und treten da oder dort in
den regelmäßigen Beruf der Gesellschaft. Viele gehen unter. Manche folgen
der Entwicklung, welche in der Heimath nach momentaner Niederlage neue
Wege sucht, und schließen sich früher oder später diesen Wegen an. Andere
wieder werden Narren des Hasses, geckenhafte und phantastische Comödian-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/30>, abgerufen am 24.07.2024.