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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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trächtliches Contingent akademischer Lehrer zusammenzustellen, an denen über¬
haupt all das Neue spurlos vorübergeht. Bei denen, deren Lehrgegenstände
nicht gerade unmittelbar durch die rücksichtslose Legislation in Leidenschaft
versetzt werden, wird das sogar die Regel sein.

Andere gibt es, die sich der Aufgabe, den Stoss der neuen Gesetzgebung
in ihr Bereich zu ziehen, nicht entschlagen können. Sie nehmen an, was die
Zeit bringt, weil es angenommen werden muß. Die Hefte müssen neu her¬
gerichtet werden. Ein Staatsrechtlehrer hat dies Vergnügen seit 1866 vor
Allen reichlich genossen. Die Lehrbücher verlangen Umarbeitungen, denn
ehe man sich's versieht, fallen ganze Abschnitte unter den mörderischen
Streichen der Legislation, die in wenig Tagen oder Wochen Verfassungen,
Gesetze und Verordnungen ausschüttet, welche einem gründlichen Rechtsgelehrten
füglich Stoff zu jahrelangem Nachdenken und Verarbeiten liefern. Man
kann sich wohl vorstellen, wie namentlich einem Staatsrechtslehrer zu Muthe
sein muß. Das Jahr 1866 warf Alles über den Haufen. Nicht blos um
das gute alte Deutsche Bundesrecht, sondern um das ganze Deutsche Staats¬
recht, mit dem man bis dahin so sanft in dem gewohnten Geleise gefahren,
war es mit einem Ruck geschehen. Vielleicht hat sich im ersten Anlauf dieser
oder jener noch damit getröstet, daß nur ein anderes Heft über das neue
Bundesrecht nöthig sein werde. Aber die Probe weniger Jahre hat gezeigt,
wie tief durch das einheitliche Staatswesen des Norddeutschen Bundes das
öffentliche Recht der Einzelstaaten beeinflußt wurde. Man mußte wahr¬
nehmen, daß auch die Lehre von dem particulären Staatsrecht und von jenem
deutschen Staatsrecht, das von der Doctrin als wissenschaftliche Quintessenz
aus der Summe der Einzelstaatsrechte gezogen uns früher als ideales Surrogat
für das Recht eines realen deutschen Staates vorgesetzt zu werden Pflegte,
daß auch daran Vieles verschoben sei. Und nun, nachdem man sich kaum
zurecht gefunden, kaum einige wissenschaftliche Bekanntschaft mit dem, nach
den Worten und Wünschen seines Urhebers eigentlich jeder Theorie spottenden
Verfassungswerke angeknüpft, nachdem man auch nicht einmal in den drei
bis vier Jahren des Norddeutschen Bundes Zeit zu der wahren wissenschaft¬
lichen Beschaulichkeit gefunden -- denn beständig ist ja an der Verfassung
gestreckt und gereckt, interpretirt und gemodelt worden --, nachdem das Alles
geschehen, dringt der 1. Januar 1871 Kaiser und Reich und eine neue Ver¬
fassung mit den Grundlagen der süddeutschen Verträge. Neue Arbeit für
die Lehrer des Staatsrechts, neue Probleme für die Theorie und, was das
Schlimmste ist, gar keine Garantie, ob nicht bald auch diese Verfassung, wie
die nationalen wünschen, in erheblichen Puncten Aenderungen erleiden wird.
Das nennt man Lebens-, Entwicklungsfähigkeit des öffentlichen Rechts.
Darnach, ob mancher von denen, die dergleichen lehren sollen, durch das be-


trächtliches Contingent akademischer Lehrer zusammenzustellen, an denen über¬
haupt all das Neue spurlos vorübergeht. Bei denen, deren Lehrgegenstände
nicht gerade unmittelbar durch die rücksichtslose Legislation in Leidenschaft
versetzt werden, wird das sogar die Regel sein.

Andere gibt es, die sich der Aufgabe, den Stoss der neuen Gesetzgebung
in ihr Bereich zu ziehen, nicht entschlagen können. Sie nehmen an, was die
Zeit bringt, weil es angenommen werden muß. Die Hefte müssen neu her¬
gerichtet werden. Ein Staatsrechtlehrer hat dies Vergnügen seit 1866 vor
Allen reichlich genossen. Die Lehrbücher verlangen Umarbeitungen, denn
ehe man sich's versieht, fallen ganze Abschnitte unter den mörderischen
Streichen der Legislation, die in wenig Tagen oder Wochen Verfassungen,
Gesetze und Verordnungen ausschüttet, welche einem gründlichen Rechtsgelehrten
füglich Stoff zu jahrelangem Nachdenken und Verarbeiten liefern. Man
kann sich wohl vorstellen, wie namentlich einem Staatsrechtslehrer zu Muthe
sein muß. Das Jahr 1866 warf Alles über den Haufen. Nicht blos um
das gute alte Deutsche Bundesrecht, sondern um das ganze Deutsche Staats¬
recht, mit dem man bis dahin so sanft in dem gewohnten Geleise gefahren,
war es mit einem Ruck geschehen. Vielleicht hat sich im ersten Anlauf dieser
oder jener noch damit getröstet, daß nur ein anderes Heft über das neue
Bundesrecht nöthig sein werde. Aber die Probe weniger Jahre hat gezeigt,
wie tief durch das einheitliche Staatswesen des Norddeutschen Bundes das
öffentliche Recht der Einzelstaaten beeinflußt wurde. Man mußte wahr¬
nehmen, daß auch die Lehre von dem particulären Staatsrecht und von jenem
deutschen Staatsrecht, das von der Doctrin als wissenschaftliche Quintessenz
aus der Summe der Einzelstaatsrechte gezogen uns früher als ideales Surrogat
für das Recht eines realen deutschen Staates vorgesetzt zu werden Pflegte,
daß auch daran Vieles verschoben sei. Und nun, nachdem man sich kaum
zurecht gefunden, kaum einige wissenschaftliche Bekanntschaft mit dem, nach
den Worten und Wünschen seines Urhebers eigentlich jeder Theorie spottenden
Verfassungswerke angeknüpft, nachdem man auch nicht einmal in den drei
bis vier Jahren des Norddeutschen Bundes Zeit zu der wahren wissenschaft¬
lichen Beschaulichkeit gefunden — denn beständig ist ja an der Verfassung
gestreckt und gereckt, interpretirt und gemodelt worden —, nachdem das Alles
geschehen, dringt der 1. Januar 1871 Kaiser und Reich und eine neue Ver¬
fassung mit den Grundlagen der süddeutschen Verträge. Neue Arbeit für
die Lehrer des Staatsrechts, neue Probleme für die Theorie und, was das
Schlimmste ist, gar keine Garantie, ob nicht bald auch diese Verfassung, wie
die nationalen wünschen, in erheblichen Puncten Aenderungen erleiden wird.
Das nennt man Lebens-, Entwicklungsfähigkeit des öffentlichen Rechts.
Darnach, ob mancher von denen, die dergleichen lehren sollen, durch das be-


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[0218] trächtliches Contingent akademischer Lehrer zusammenzustellen, an denen über¬ haupt all das Neue spurlos vorübergeht. Bei denen, deren Lehrgegenstände nicht gerade unmittelbar durch die rücksichtslose Legislation in Leidenschaft versetzt werden, wird das sogar die Regel sein. Andere gibt es, die sich der Aufgabe, den Stoss der neuen Gesetzgebung in ihr Bereich zu ziehen, nicht entschlagen können. Sie nehmen an, was die Zeit bringt, weil es angenommen werden muß. Die Hefte müssen neu her¬ gerichtet werden. Ein Staatsrechtlehrer hat dies Vergnügen seit 1866 vor Allen reichlich genossen. Die Lehrbücher verlangen Umarbeitungen, denn ehe man sich's versieht, fallen ganze Abschnitte unter den mörderischen Streichen der Legislation, die in wenig Tagen oder Wochen Verfassungen, Gesetze und Verordnungen ausschüttet, welche einem gründlichen Rechtsgelehrten füglich Stoff zu jahrelangem Nachdenken und Verarbeiten liefern. Man kann sich wohl vorstellen, wie namentlich einem Staatsrechtslehrer zu Muthe sein muß. Das Jahr 1866 warf Alles über den Haufen. Nicht blos um das gute alte Deutsche Bundesrecht, sondern um das ganze Deutsche Staats¬ recht, mit dem man bis dahin so sanft in dem gewohnten Geleise gefahren, war es mit einem Ruck geschehen. Vielleicht hat sich im ersten Anlauf dieser oder jener noch damit getröstet, daß nur ein anderes Heft über das neue Bundesrecht nöthig sein werde. Aber die Probe weniger Jahre hat gezeigt, wie tief durch das einheitliche Staatswesen des Norddeutschen Bundes das öffentliche Recht der Einzelstaaten beeinflußt wurde. Man mußte wahr¬ nehmen, daß auch die Lehre von dem particulären Staatsrecht und von jenem deutschen Staatsrecht, das von der Doctrin als wissenschaftliche Quintessenz aus der Summe der Einzelstaatsrechte gezogen uns früher als ideales Surrogat für das Recht eines realen deutschen Staates vorgesetzt zu werden Pflegte, daß auch daran Vieles verschoben sei. Und nun, nachdem man sich kaum zurecht gefunden, kaum einige wissenschaftliche Bekanntschaft mit dem, nach den Worten und Wünschen seines Urhebers eigentlich jeder Theorie spottenden Verfassungswerke angeknüpft, nachdem man auch nicht einmal in den drei bis vier Jahren des Norddeutschen Bundes Zeit zu der wahren wissenschaft¬ lichen Beschaulichkeit gefunden — denn beständig ist ja an der Verfassung gestreckt und gereckt, interpretirt und gemodelt worden —, nachdem das Alles geschehen, dringt der 1. Januar 1871 Kaiser und Reich und eine neue Ver¬ fassung mit den Grundlagen der süddeutschen Verträge. Neue Arbeit für die Lehrer des Staatsrechts, neue Probleme für die Theorie und, was das Schlimmste ist, gar keine Garantie, ob nicht bald auch diese Verfassung, wie die nationalen wünschen, in erheblichen Puncten Aenderungen erleiden wird. Das nennt man Lebens-, Entwicklungsfähigkeit des öffentlichen Rechts. Darnach, ob mancher von denen, die dergleichen lehren sollen, durch das be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/218>, abgerufen am 24.07.2024.