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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Reich ziemlich rathlos gegenüber. Ihrem Ausgangspunkt nach ist die Partei
particularistisch. Sie kann aber den Particularismus nicht fortsetzen, ohne
mit dem Reich den preußischen Staat zu beschädigen, nachdem derselbe seine
Lebensfunction erkannt und ergriffen hat, Organ und Mittelpunkt der deut¬
schen Nationaleinheit zu sein. Auch diese Partei wird einst mit der Reichs¬
partei sich verschmelzen müssen.

Die eigentlichen Gegner des Reiches sind die Ultramontanen. Um sie
sammeln sich alle die Kräfte, welche in der ganzen Geschichte des deutschen
Volkes auf die Zerstörung desselben hingearbeitet haben, der ungesunde Par¬
ticularismus und der Radikalismus. Die gestrige Adreßverhandlung hat über¬
raschend schnell und deutlich das Verhältniß der clericalen Fraction zum deut¬
schen Reich in's Licht gesetzt. Man übersieht vollständig, daß die Fraction
für die Gestaltung Deutschlands kein einheitliches Princip hat, sondern die
einander widerstrebendsten Forderungen begünstigt, weil sie jeder nationalen
Gestaltung Deutschlands feind ist. Während die Fraction einen Antrag ge¬
stellt hat auf Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung, also einen
unitarischen, nivellirenden Schritt thut, spricht sie in ihrem Adreßentwurf von
der Erhaltung "altbegründeter berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme."
Dem sonst vorsichtigen Abgeordneten Reichensperger entschlüpfte sogar der
Ausdruck: wir wollen nicht den Gegensatz, sondern die Einheit von Kaiser
und Papst. Alle glorreichen Erinnerungen des alten Kaiserthums beruhen
aber auf dem Gegensatz zum Papstthum, In der Periode des Kaiserthums,
welche mit Rudolf von Habsburg beginnt, nahmen Heinrich VII. und Ludwig
der Baier noch einmal den nationalen Gegensatz zum Papstthum auf. Dann
aber bildete sich die von Herrn Reichensperger gewünschte Einheit von Kaiser
und Papst heraus, unter welcher das nationale Gegengewicht gegen die päpst¬
liche Fremdherrschaft nur noch in der volkstümlichen und ständischen Oppo¬
sition lag. Der Einheit von Kaiser und Papst verdanken wir die Verbren¬
nung von Huß und die Achterklärung gegen Luther.

Es ist eine merkwürdige historische Aehnlichkeit, daß in dem Augenblick,
wo das Reich deutscher Nation zum ersten Mal auf völlig nationaler Basis
wieder in's Leben tritt, die Ansprüche der mittelalterlichen Papstherrschaft
durch das endlich zum Glaubenssatz erhobene Unfehlbarkeitsdogma wieder
aufleben. Noch merkwürdiger ist. aber, daß in demselben Augenblick ein be¬
rühmter katholischer Theolog von deutscher Abkunft und Bildung die päpst¬
liche Partei zur öffentlichen Disputation über die Begründung des von ihr
der katholischen Welt auferlegten Glaubenssatzes herausfordert. Werden ihre
Vertreter sich zur Disputation herbeilassen? Hoffen sie, wie einst Leo X.
gegen Luther, den Beistand des deutschen Kaisers zur Unterdrückung des
Ketzers aus Gründen politischer Opportunist zu gewinnen? Wir hoffen


Reich ziemlich rathlos gegenüber. Ihrem Ausgangspunkt nach ist die Partei
particularistisch. Sie kann aber den Particularismus nicht fortsetzen, ohne
mit dem Reich den preußischen Staat zu beschädigen, nachdem derselbe seine
Lebensfunction erkannt und ergriffen hat, Organ und Mittelpunkt der deut¬
schen Nationaleinheit zu sein. Auch diese Partei wird einst mit der Reichs¬
partei sich verschmelzen müssen.

Die eigentlichen Gegner des Reiches sind die Ultramontanen. Um sie
sammeln sich alle die Kräfte, welche in der ganzen Geschichte des deutschen
Volkes auf die Zerstörung desselben hingearbeitet haben, der ungesunde Par¬
ticularismus und der Radikalismus. Die gestrige Adreßverhandlung hat über¬
raschend schnell und deutlich das Verhältniß der clericalen Fraction zum deut¬
schen Reich in's Licht gesetzt. Man übersieht vollständig, daß die Fraction
für die Gestaltung Deutschlands kein einheitliches Princip hat, sondern die
einander widerstrebendsten Forderungen begünstigt, weil sie jeder nationalen
Gestaltung Deutschlands feind ist. Während die Fraction einen Antrag ge¬
stellt hat auf Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung, also einen
unitarischen, nivellirenden Schritt thut, spricht sie in ihrem Adreßentwurf von
der Erhaltung „altbegründeter berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme."
Dem sonst vorsichtigen Abgeordneten Reichensperger entschlüpfte sogar der
Ausdruck: wir wollen nicht den Gegensatz, sondern die Einheit von Kaiser
und Papst. Alle glorreichen Erinnerungen des alten Kaiserthums beruhen
aber auf dem Gegensatz zum Papstthum, In der Periode des Kaiserthums,
welche mit Rudolf von Habsburg beginnt, nahmen Heinrich VII. und Ludwig
der Baier noch einmal den nationalen Gegensatz zum Papstthum auf. Dann
aber bildete sich die von Herrn Reichensperger gewünschte Einheit von Kaiser
und Papst heraus, unter welcher das nationale Gegengewicht gegen die päpst¬
liche Fremdherrschaft nur noch in der volkstümlichen und ständischen Oppo¬
sition lag. Der Einheit von Kaiser und Papst verdanken wir die Verbren¬
nung von Huß und die Achterklärung gegen Luther.

Es ist eine merkwürdige historische Aehnlichkeit, daß in dem Augenblick,
wo das Reich deutscher Nation zum ersten Mal auf völlig nationaler Basis
wieder in's Leben tritt, die Ansprüche der mittelalterlichen Papstherrschaft
durch das endlich zum Glaubenssatz erhobene Unfehlbarkeitsdogma wieder
aufleben. Noch merkwürdiger ist. aber, daß in demselben Augenblick ein be¬
rühmter katholischer Theolog von deutscher Abkunft und Bildung die päpst¬
liche Partei zur öffentlichen Disputation über die Begründung des von ihr
der katholischen Welt auferlegten Glaubenssatzes herausfordert. Werden ihre
Vertreter sich zur Disputation herbeilassen? Hoffen sie, wie einst Leo X.
gegen Luther, den Beistand des deutschen Kaisers zur Unterdrückung des
Ketzers aus Gründen politischer Opportunist zu gewinnen? Wir hoffen


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[0072] Reich ziemlich rathlos gegenüber. Ihrem Ausgangspunkt nach ist die Partei particularistisch. Sie kann aber den Particularismus nicht fortsetzen, ohne mit dem Reich den preußischen Staat zu beschädigen, nachdem derselbe seine Lebensfunction erkannt und ergriffen hat, Organ und Mittelpunkt der deut¬ schen Nationaleinheit zu sein. Auch diese Partei wird einst mit der Reichs¬ partei sich verschmelzen müssen. Die eigentlichen Gegner des Reiches sind die Ultramontanen. Um sie sammeln sich alle die Kräfte, welche in der ganzen Geschichte des deutschen Volkes auf die Zerstörung desselben hingearbeitet haben, der ungesunde Par¬ ticularismus und der Radikalismus. Die gestrige Adreßverhandlung hat über¬ raschend schnell und deutlich das Verhältniß der clericalen Fraction zum deut¬ schen Reich in's Licht gesetzt. Man übersieht vollständig, daß die Fraction für die Gestaltung Deutschlands kein einheitliches Princip hat, sondern die einander widerstrebendsten Forderungen begünstigt, weil sie jeder nationalen Gestaltung Deutschlands feind ist. Während die Fraction einen Antrag ge¬ stellt hat auf Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung, also einen unitarischen, nivellirenden Schritt thut, spricht sie in ihrem Adreßentwurf von der Erhaltung „altbegründeter berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme." Dem sonst vorsichtigen Abgeordneten Reichensperger entschlüpfte sogar der Ausdruck: wir wollen nicht den Gegensatz, sondern die Einheit von Kaiser und Papst. Alle glorreichen Erinnerungen des alten Kaiserthums beruhen aber auf dem Gegensatz zum Papstthum, In der Periode des Kaiserthums, welche mit Rudolf von Habsburg beginnt, nahmen Heinrich VII. und Ludwig der Baier noch einmal den nationalen Gegensatz zum Papstthum auf. Dann aber bildete sich die von Herrn Reichensperger gewünschte Einheit von Kaiser und Papst heraus, unter welcher das nationale Gegengewicht gegen die päpst¬ liche Fremdherrschaft nur noch in der volkstümlichen und ständischen Oppo¬ sition lag. Der Einheit von Kaiser und Papst verdanken wir die Verbren¬ nung von Huß und die Achterklärung gegen Luther. Es ist eine merkwürdige historische Aehnlichkeit, daß in dem Augenblick, wo das Reich deutscher Nation zum ersten Mal auf völlig nationaler Basis wieder in's Leben tritt, die Ansprüche der mittelalterlichen Papstherrschaft durch das endlich zum Glaubenssatz erhobene Unfehlbarkeitsdogma wieder aufleben. Noch merkwürdiger ist. aber, daß in demselben Augenblick ein be¬ rühmter katholischer Theolog von deutscher Abkunft und Bildung die päpst¬ liche Partei zur öffentlichen Disputation über die Begründung des von ihr der katholischen Welt auferlegten Glaubenssatzes herausfordert. Werden ihre Vertreter sich zur Disputation herbeilassen? Hoffen sie, wie einst Leo X. gegen Luther, den Beistand des deutschen Kaisers zur Unterdrückung des Ketzers aus Gründen politischer Opportunist zu gewinnen? Wir hoffen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/72>, abgerufen am 28.09.2024.