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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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zu wohnen und ihren Verdienst mitzunehmen. Eben so wenig wollten die Leute
glauben, daß unsre Kohlen und unser Eisen je zu Ende gehen könnten oder
daß sie so viel theurer werden könnten, als die Kohlen und das Eisen von
Amerika, daß es sich nicht länger der Mühe verlohnte, nach ihnen zu graben,
und daß wir uns deßhalb gegen den Verlust unsrer künstlichen Stellung als
das große Verkehrscentrum dadurch sicher stellen müßten, daß wir uns stark
und geachtet machten.

Wir dachten, wir lebten in einem commerciellen Millennium, welches zum
wenigsten tausend Jahre dauern müßte. Der bitterste Theil unsrer Betrach¬
tung ist übrigens, daß alle diese Noth und Verkommenheit sich so leicht hätte
vermeiden lassen, und daß wir sie ganz allein durch unsren kurzsichtigen Leicht¬
sinn über uns brachten. Da drüben über der schmalen Meerenge war die
Schrift an der Wand, aber es beliebte uns nicht, sie zu lesen. Die War¬
nungen der wenigen Klugen wurden erstickt von den Stimmen der Menge.
Die Macht schwand damals aus den Händen der Klasse, welche zu herrschen
und politischen Gefahren gegenüber zu treten gewohnt gewesen war, und
welche die Nation mit unbefleckten Ehrenschild durch frühere Kämpfe hin¬
durchgebracht hatte. Diese Macht war im Begriff, in die Hände der untern
Klassen überzugehen, die ungebildet, ungewöhnt an den Gebrauch politischer
Rechte und von Demagogen gelenkt waren, und die wenigen, welche in dieser
Generation vernünftig waren, wurden als Alarmisten oder Aristokraten ver¬
schrieen, die nur ihre eigne Vergrößerung suchten, wenn sie Staatsgelder auf
unnütze Rüstungen verschwendeten. Die reichen Leute waren trug und ver¬
schwenderisch, die Armen murrten über die Kosten der Vertheidigung. Die
Politik war ein bloßes Ersteigern radicaler Stimmen durch immer höheres
Gebot geworden, und die, welche die Nation hätten führen sollen, bückten
sich statt dessen und kuppelten mit der Selbstsucht der Zeit und stimmten
munter in das allbeliebte Geschrei ein, welches diejenigen, welche die Ver¬
theidigung der Nation durch gezwungene Bewaffnung ihrer Männer sichern
wollten, als Leute denuncirte, welche die Volksfreiheiten bedrohten.

Wahrlich, die Nation war reif zu einem Fall. Aber wenn ich bedenke,
wie ein wenig Festigkeit und Selbstverleugnung oder ein wenig politischer
Muth und Voraussicht das Unglück abgewendet haben würde, so fühle
ich, daß das Gericht, das über uns kam, wirklich verdient gewesen sein
muß. Eine Nation, zu selbstsüchtig, um ihre Freiheiten zu vertheidigen,
konnte nicht geeignet sein, sie zu bewahren. Euch, meine Enkel, die ihr in
einem glücklichern Lande eine neue Heimath suchtet, möge diese Lehre im
Lande eurer Wahl unverloren bleiben. Was mich angeht, bin ich zu alt,
um das Leben in einem neuen Lande noch einmal zu beginnen, und bei den
harten und schlimmen Tagen, die ich gehabt habe, will es nicht viel sagen,


zu wohnen und ihren Verdienst mitzunehmen. Eben so wenig wollten die Leute
glauben, daß unsre Kohlen und unser Eisen je zu Ende gehen könnten oder
daß sie so viel theurer werden könnten, als die Kohlen und das Eisen von
Amerika, daß es sich nicht länger der Mühe verlohnte, nach ihnen zu graben,
und daß wir uns deßhalb gegen den Verlust unsrer künstlichen Stellung als
das große Verkehrscentrum dadurch sicher stellen müßten, daß wir uns stark
und geachtet machten.

Wir dachten, wir lebten in einem commerciellen Millennium, welches zum
wenigsten tausend Jahre dauern müßte. Der bitterste Theil unsrer Betrach¬
tung ist übrigens, daß alle diese Noth und Verkommenheit sich so leicht hätte
vermeiden lassen, und daß wir sie ganz allein durch unsren kurzsichtigen Leicht¬
sinn über uns brachten. Da drüben über der schmalen Meerenge war die
Schrift an der Wand, aber es beliebte uns nicht, sie zu lesen. Die War¬
nungen der wenigen Klugen wurden erstickt von den Stimmen der Menge.
Die Macht schwand damals aus den Händen der Klasse, welche zu herrschen
und politischen Gefahren gegenüber zu treten gewohnt gewesen war, und
welche die Nation mit unbefleckten Ehrenschild durch frühere Kämpfe hin¬
durchgebracht hatte. Diese Macht war im Begriff, in die Hände der untern
Klassen überzugehen, die ungebildet, ungewöhnt an den Gebrauch politischer
Rechte und von Demagogen gelenkt waren, und die wenigen, welche in dieser
Generation vernünftig waren, wurden als Alarmisten oder Aristokraten ver¬
schrieen, die nur ihre eigne Vergrößerung suchten, wenn sie Staatsgelder auf
unnütze Rüstungen verschwendeten. Die reichen Leute waren trug und ver¬
schwenderisch, die Armen murrten über die Kosten der Vertheidigung. Die
Politik war ein bloßes Ersteigern radicaler Stimmen durch immer höheres
Gebot geworden, und die, welche die Nation hätten führen sollen, bückten
sich statt dessen und kuppelten mit der Selbstsucht der Zeit und stimmten
munter in das allbeliebte Geschrei ein, welches diejenigen, welche die Ver¬
theidigung der Nation durch gezwungene Bewaffnung ihrer Männer sichern
wollten, als Leute denuncirte, welche die Volksfreiheiten bedrohten.

Wahrlich, die Nation war reif zu einem Fall. Aber wenn ich bedenke,
wie ein wenig Festigkeit und Selbstverleugnung oder ein wenig politischer
Muth und Voraussicht das Unglück abgewendet haben würde, so fühle
ich, daß das Gericht, das über uns kam, wirklich verdient gewesen sein
muß. Eine Nation, zu selbstsüchtig, um ihre Freiheiten zu vertheidigen,
konnte nicht geeignet sein, sie zu bewahren. Euch, meine Enkel, die ihr in
einem glücklichern Lande eine neue Heimath suchtet, möge diese Lehre im
Lande eurer Wahl unverloren bleiben. Was mich angeht, bin ich zu alt,
um das Leben in einem neuen Lande noch einmal zu beginnen, und bei den
harten und schlimmen Tagen, die ich gehabt habe, will es nicht viel sagen,


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[0471] zu wohnen und ihren Verdienst mitzunehmen. Eben so wenig wollten die Leute glauben, daß unsre Kohlen und unser Eisen je zu Ende gehen könnten oder daß sie so viel theurer werden könnten, als die Kohlen und das Eisen von Amerika, daß es sich nicht länger der Mühe verlohnte, nach ihnen zu graben, und daß wir uns deßhalb gegen den Verlust unsrer künstlichen Stellung als das große Verkehrscentrum dadurch sicher stellen müßten, daß wir uns stark und geachtet machten. Wir dachten, wir lebten in einem commerciellen Millennium, welches zum wenigsten tausend Jahre dauern müßte. Der bitterste Theil unsrer Betrach¬ tung ist übrigens, daß alle diese Noth und Verkommenheit sich so leicht hätte vermeiden lassen, und daß wir sie ganz allein durch unsren kurzsichtigen Leicht¬ sinn über uns brachten. Da drüben über der schmalen Meerenge war die Schrift an der Wand, aber es beliebte uns nicht, sie zu lesen. Die War¬ nungen der wenigen Klugen wurden erstickt von den Stimmen der Menge. Die Macht schwand damals aus den Händen der Klasse, welche zu herrschen und politischen Gefahren gegenüber zu treten gewohnt gewesen war, und welche die Nation mit unbefleckten Ehrenschild durch frühere Kämpfe hin¬ durchgebracht hatte. Diese Macht war im Begriff, in die Hände der untern Klassen überzugehen, die ungebildet, ungewöhnt an den Gebrauch politischer Rechte und von Demagogen gelenkt waren, und die wenigen, welche in dieser Generation vernünftig waren, wurden als Alarmisten oder Aristokraten ver¬ schrieen, die nur ihre eigne Vergrößerung suchten, wenn sie Staatsgelder auf unnütze Rüstungen verschwendeten. Die reichen Leute waren trug und ver¬ schwenderisch, die Armen murrten über die Kosten der Vertheidigung. Die Politik war ein bloßes Ersteigern radicaler Stimmen durch immer höheres Gebot geworden, und die, welche die Nation hätten führen sollen, bückten sich statt dessen und kuppelten mit der Selbstsucht der Zeit und stimmten munter in das allbeliebte Geschrei ein, welches diejenigen, welche die Ver¬ theidigung der Nation durch gezwungene Bewaffnung ihrer Männer sichern wollten, als Leute denuncirte, welche die Volksfreiheiten bedrohten. Wahrlich, die Nation war reif zu einem Fall. Aber wenn ich bedenke, wie ein wenig Festigkeit und Selbstverleugnung oder ein wenig politischer Muth und Voraussicht das Unglück abgewendet haben würde, so fühle ich, daß das Gericht, das über uns kam, wirklich verdient gewesen sein muß. Eine Nation, zu selbstsüchtig, um ihre Freiheiten zu vertheidigen, konnte nicht geeignet sein, sie zu bewahren. Euch, meine Enkel, die ihr in einem glücklichern Lande eine neue Heimath suchtet, möge diese Lehre im Lande eurer Wahl unverloren bleiben. Was mich angeht, bin ich zu alt, um das Leben in einem neuen Lande noch einmal zu beginnen, und bei den harten und schlimmen Tagen, die ich gehabt habe, will es nicht viel sagen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/471>, abgerufen am 28.09.2024.