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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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rigen Nationalgardisten, vollkommen anständig. Der Deputirte Schölcher, der,
obgleich radicaler Republikaner, doch in Versailles geblieben und deshalb von
der Commune als Reactionär und Berräther angesehen wird, ist in diesem
Concert arretirt worden, und ich bedaure sehr, nicht bis zu Ende geblieben zu
sein, denn als ich fortging, stand ich nur wenige Schritt weit von ihm, und
hätte also wahrscheinlich die Scene der Verhaftung aus erster Hand mit an¬
gesehen.

Nachdem seit dem 8. dö. der Umsturz der Vendome-Säule jeden Tag er¬
wartet wurde, war er für heute ganz sicher versprochen worden; um 7 Uhr
Abends stand sie aber noch. Es ist zum Todtlachen, wie hier Alles gleich
zur Hanswursterei gemacht wird. Da die Ingenieure der Commune den
Plan haben, die schwere Säule in einem Stück in die Rue de la Pair
hineinzuwerfen, so hat man behauptet, dies würde eine so heftige Erschüt¬
terung hervorbringen, daß alle Fensterscheiben in der Nähe springen würden,
eine Befürchtung, deren Begründung zu beurtheilen ich nicht Physiker genug
bin. Da nun die Läden in allen umliegenden Straßen (Rue de la Pair,
Se. Honore', Boulevard de la Madelaine etc.) große Spiegelscheiben haben,
so haben seit Anfang der Woche einige vorsichtige Menschen angefangen,
Papierstreifen auf die Scheiben zu kleben, um dadurch das Springen zu ver¬
hüten, und das ist nun in den letzten Tagen eine wahre Manie geworden.
Die ersten klebten einfache Streifen quer über die Scheiben, die nächsten bil¬
deten regelmäßige Figuren, andere nahmen buntfarbige Papiere dazu, und
heute habe ich kunstreiche Mosaiken, bunte Wappen und dergl. gesehen, und
das Publikum amüsirt sich, diese Spielereien zu bewundern.

Hoffentlich unterrichten Euch die Zeitungen mit hinlänglichem Detail
über die hiesigen Vorgänge, die, wenn sie nicht im Grunde so traurig wären,
zum Kranklachen sein würden. Kann man sich etwas Komischeres denken, als
das Abenteuer Rössels, der zuerst als ein militärisches Genie erster Größe,
dem ersten Napoleon wenigstens gleich gepriesen, und nachdem er 10 Tage
Kriegsminister gewesen, als des Verraths verdächtig verhaftet und auf dem
Hotel de Ville selbst gefangen gehalten, und von einem eigens dazu ausge¬
wählten Mitgliede der Commune bewacht wird, aber Mittel findet, Arm in
Arm mit seinem Kerkermeister auszukneifen! Es fehlt hierzu nur noch Musik
von Offenbach, und Lortzing und Ballmann, um die Scene darzustellen.


Dein O.

Die Vendome-Säule steht noch. Thiers' Haus ist aber schon halb demolirt.
Gestern früh ist Ander, 89Vz Jahr alt gestorben.


rigen Nationalgardisten, vollkommen anständig. Der Deputirte Schölcher, der,
obgleich radicaler Republikaner, doch in Versailles geblieben und deshalb von
der Commune als Reactionär und Berräther angesehen wird, ist in diesem
Concert arretirt worden, und ich bedaure sehr, nicht bis zu Ende geblieben zu
sein, denn als ich fortging, stand ich nur wenige Schritt weit von ihm, und
hätte also wahrscheinlich die Scene der Verhaftung aus erster Hand mit an¬
gesehen.

Nachdem seit dem 8. dö. der Umsturz der Vendome-Säule jeden Tag er¬
wartet wurde, war er für heute ganz sicher versprochen worden; um 7 Uhr
Abends stand sie aber noch. Es ist zum Todtlachen, wie hier Alles gleich
zur Hanswursterei gemacht wird. Da die Ingenieure der Commune den
Plan haben, die schwere Säule in einem Stück in die Rue de la Pair
hineinzuwerfen, so hat man behauptet, dies würde eine so heftige Erschüt¬
terung hervorbringen, daß alle Fensterscheiben in der Nähe springen würden,
eine Befürchtung, deren Begründung zu beurtheilen ich nicht Physiker genug
bin. Da nun die Läden in allen umliegenden Straßen (Rue de la Pair,
Se. Honore', Boulevard de la Madelaine etc.) große Spiegelscheiben haben,
so haben seit Anfang der Woche einige vorsichtige Menschen angefangen,
Papierstreifen auf die Scheiben zu kleben, um dadurch das Springen zu ver¬
hüten, und das ist nun in den letzten Tagen eine wahre Manie geworden.
Die ersten klebten einfache Streifen quer über die Scheiben, die nächsten bil¬
deten regelmäßige Figuren, andere nahmen buntfarbige Papiere dazu, und
heute habe ich kunstreiche Mosaiken, bunte Wappen und dergl. gesehen, und
das Publikum amüsirt sich, diese Spielereien zu bewundern.

Hoffentlich unterrichten Euch die Zeitungen mit hinlänglichem Detail
über die hiesigen Vorgänge, die, wenn sie nicht im Grunde so traurig wären,
zum Kranklachen sein würden. Kann man sich etwas Komischeres denken, als
das Abenteuer Rössels, der zuerst als ein militärisches Genie erster Größe,
dem ersten Napoleon wenigstens gleich gepriesen, und nachdem er 10 Tage
Kriegsminister gewesen, als des Verraths verdächtig verhaftet und auf dem
Hotel de Ville selbst gefangen gehalten, und von einem eigens dazu ausge¬
wählten Mitgliede der Commune bewacht wird, aber Mittel findet, Arm in
Arm mit seinem Kerkermeister auszukneifen! Es fehlt hierzu nur noch Musik
von Offenbach, und Lortzing und Ballmann, um die Scene darzustellen.


Dein O.

Die Vendome-Säule steht noch. Thiers' Haus ist aber schon halb demolirt.
Gestern früh ist Ander, 89Vz Jahr alt gestorben.


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[0419] rigen Nationalgardisten, vollkommen anständig. Der Deputirte Schölcher, der, obgleich radicaler Republikaner, doch in Versailles geblieben und deshalb von der Commune als Reactionär und Berräther angesehen wird, ist in diesem Concert arretirt worden, und ich bedaure sehr, nicht bis zu Ende geblieben zu sein, denn als ich fortging, stand ich nur wenige Schritt weit von ihm, und hätte also wahrscheinlich die Scene der Verhaftung aus erster Hand mit an¬ gesehen. Nachdem seit dem 8. dö. der Umsturz der Vendome-Säule jeden Tag er¬ wartet wurde, war er für heute ganz sicher versprochen worden; um 7 Uhr Abends stand sie aber noch. Es ist zum Todtlachen, wie hier Alles gleich zur Hanswursterei gemacht wird. Da die Ingenieure der Commune den Plan haben, die schwere Säule in einem Stück in die Rue de la Pair hineinzuwerfen, so hat man behauptet, dies würde eine so heftige Erschüt¬ terung hervorbringen, daß alle Fensterscheiben in der Nähe springen würden, eine Befürchtung, deren Begründung zu beurtheilen ich nicht Physiker genug bin. Da nun die Läden in allen umliegenden Straßen (Rue de la Pair, Se. Honore', Boulevard de la Madelaine etc.) große Spiegelscheiben haben, so haben seit Anfang der Woche einige vorsichtige Menschen angefangen, Papierstreifen auf die Scheiben zu kleben, um dadurch das Springen zu ver¬ hüten, und das ist nun in den letzten Tagen eine wahre Manie geworden. Die ersten klebten einfache Streifen quer über die Scheiben, die nächsten bil¬ deten regelmäßige Figuren, andere nahmen buntfarbige Papiere dazu, und heute habe ich kunstreiche Mosaiken, bunte Wappen und dergl. gesehen, und das Publikum amüsirt sich, diese Spielereien zu bewundern. Hoffentlich unterrichten Euch die Zeitungen mit hinlänglichem Detail über die hiesigen Vorgänge, die, wenn sie nicht im Grunde so traurig wären, zum Kranklachen sein würden. Kann man sich etwas Komischeres denken, als das Abenteuer Rössels, der zuerst als ein militärisches Genie erster Größe, dem ersten Napoleon wenigstens gleich gepriesen, und nachdem er 10 Tage Kriegsminister gewesen, als des Verraths verdächtig verhaftet und auf dem Hotel de Ville selbst gefangen gehalten, und von einem eigens dazu ausge¬ wählten Mitgliede der Commune bewacht wird, aber Mittel findet, Arm in Arm mit seinem Kerkermeister auszukneifen! Es fehlt hierzu nur noch Musik von Offenbach, und Lortzing und Ballmann, um die Scene darzustellen. Dein O. Die Vendome-Säule steht noch. Thiers' Haus ist aber schon halb demolirt. Gestern früh ist Ander, 89Vz Jahr alt gestorben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/419>, abgerufen am 28.09.2024.