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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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welche Bismarck 1867 im constituirenden Reichstage als Zerstörerin der deut¬
schen Macht so treffend und nachdrücklich bezeichnet hat, ein Blick auf die so
herrlich nationalen Wahlen Süddeutschlands und der nördlichen Kleinstaaten
namentlich Mecklenburgs, das trotz der raffinirten Machinationen der dortigen
Feudalparticularisten gänzlich national gewählt hat! Doch beurtheilen wir
das preußische Volk nicht zu hart; denken wir daran, wie die schwache Be¬
theiligung an der Wahl (nirgends sind bei uns mehr als Is Procent der
Bevölkerung an die Urne getreten, in einigen altpreußischen Districten bleibt
das Verhältniß unter 9 bis 8 Procent stehen) mit dem Umstände zuge¬
schrieben werden muß, daß in Preußen beträchtlich mehr Wahlberechtigte als
in irgend einem andern deutschen Staat unter die Fahnen gezogen worden
sind! Bis in die Altersclasse von 40 zu 50 Jahren, d. h. zum ausgesprochenen
Landsturm, hat man kaum in einem andern deutschen Lande gegriffen, auch in
die Landwehr nirgend so stark. Weit mehr als zwei Drittel der Kämpfer,
welche Deutschland am 3. März in Waffen hielt, und in Folge dessen ihres
Wahlrechts verlustig gingen, waren aus Preußen. Aus der erleichterten Ein¬
wirkung auf die im Civilstande zurückgebliebenen unkräftigeren Landesbewohner
erklären sich die für die Reactionären so günstigen preußischen Wahlresultate.
Dennoch ist vorauszusagen, daß der unter den preußischen Abgeordneten vor¬
herrschende Geist keinen Einfluß auf die Majorität des Reichstags üben wird;
vielmehr ist die wohlthätige Wirkung, welche der Eintritt sovieler grünt
deutsch gesinnter Elemente aus dem Süden, den Mittel- und Kleinstaaten
ausüben muß, schon seit den ersten Verhandlungen nicht hoch genug anzu¬
schlagen. Zwar wird in mehr als einer Beziehung die diesmalige Session
als eine vermehrte zweite Auflage des norddeutschen Parlamentes betrachtet,
wie die merkwürdige und doch mit Beifall aufgenommene Bewillkommnung
"der zum ersten Mal hier eintretenden Collegen" und die Annahme der nord¬
deutschen Geschäftsordnung schließen läßt. Allein der Sinn, in welchem schon
jetzt die Mehrheit des Reichstags über die in der sehr warm aufgenommenen
Thronrede verheißenen Vorlagen sich ausspricht, zeigt unverkennbar, daß die
Collectivseele dieses Parlaments von anderer Beschaffenheit sein wird, als der
Charakter der norddeutschen Volksvertretung. Die Versöhnung von Nord
und Süd, welche der große Krieg herbeiführte, die bloße Existenz des deut¬
schen Reichstags ist erheblich werthvoller als irgend eins der zahlreichen
parlamentarischen Gebilde der deutschen Vergangenheit. Die Reminiscenzen
aus der preußischen Conflietszeit treten jetzt ganz zurück. Dadurch wird die
Haltung des Parlaments ebenso unbefangen, als seine Physiognomie durch
die weit klareren Ziele, die uns jetzt gesteckt sind, an Bestimmtheit gewinnen
wird. Man will aus liberaler Seite in seinen Ansprüchen mäßiger sein, als
die oft so schrill radicalen Stimmen der Linken des norddeutschen Parlaments,


welche Bismarck 1867 im constituirenden Reichstage als Zerstörerin der deut¬
schen Macht so treffend und nachdrücklich bezeichnet hat, ein Blick auf die so
herrlich nationalen Wahlen Süddeutschlands und der nördlichen Kleinstaaten
namentlich Mecklenburgs, das trotz der raffinirten Machinationen der dortigen
Feudalparticularisten gänzlich national gewählt hat! Doch beurtheilen wir
das preußische Volk nicht zu hart; denken wir daran, wie die schwache Be¬
theiligung an der Wahl (nirgends sind bei uns mehr als Is Procent der
Bevölkerung an die Urne getreten, in einigen altpreußischen Districten bleibt
das Verhältniß unter 9 bis 8 Procent stehen) mit dem Umstände zuge¬
schrieben werden muß, daß in Preußen beträchtlich mehr Wahlberechtigte als
in irgend einem andern deutschen Staat unter die Fahnen gezogen worden
sind! Bis in die Altersclasse von 40 zu 50 Jahren, d. h. zum ausgesprochenen
Landsturm, hat man kaum in einem andern deutschen Lande gegriffen, auch in
die Landwehr nirgend so stark. Weit mehr als zwei Drittel der Kämpfer,
welche Deutschland am 3. März in Waffen hielt, und in Folge dessen ihres
Wahlrechts verlustig gingen, waren aus Preußen. Aus der erleichterten Ein¬
wirkung auf die im Civilstande zurückgebliebenen unkräftigeren Landesbewohner
erklären sich die für die Reactionären so günstigen preußischen Wahlresultate.
Dennoch ist vorauszusagen, daß der unter den preußischen Abgeordneten vor¬
herrschende Geist keinen Einfluß auf die Majorität des Reichstags üben wird;
vielmehr ist die wohlthätige Wirkung, welche der Eintritt sovieler grünt
deutsch gesinnter Elemente aus dem Süden, den Mittel- und Kleinstaaten
ausüben muß, schon seit den ersten Verhandlungen nicht hoch genug anzu¬
schlagen. Zwar wird in mehr als einer Beziehung die diesmalige Session
als eine vermehrte zweite Auflage des norddeutschen Parlamentes betrachtet,
wie die merkwürdige und doch mit Beifall aufgenommene Bewillkommnung
„der zum ersten Mal hier eintretenden Collegen" und die Annahme der nord¬
deutschen Geschäftsordnung schließen läßt. Allein der Sinn, in welchem schon
jetzt die Mehrheit des Reichstags über die in der sehr warm aufgenommenen
Thronrede verheißenen Vorlagen sich ausspricht, zeigt unverkennbar, daß die
Collectivseele dieses Parlaments von anderer Beschaffenheit sein wird, als der
Charakter der norddeutschen Volksvertretung. Die Versöhnung von Nord
und Süd, welche der große Krieg herbeiführte, die bloße Existenz des deut¬
schen Reichstags ist erheblich werthvoller als irgend eins der zahlreichen
parlamentarischen Gebilde der deutschen Vergangenheit. Die Reminiscenzen
aus der preußischen Conflietszeit treten jetzt ganz zurück. Dadurch wird die
Haltung des Parlaments ebenso unbefangen, als seine Physiognomie durch
die weit klareren Ziele, die uns jetzt gesteckt sind, an Bestimmtheit gewinnen
wird. Man will aus liberaler Seite in seinen Ansprüchen mäßiger sein, als
die oft so schrill radicalen Stimmen der Linken des norddeutschen Parlaments,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/37>, abgerufen am 28.09.2024.