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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Opfer zu bringen, die ihm wahrscheinlich jetzt weniger lebensfähig erscheint,
denn je zuvor. Der Pariser Commune müßte eigentlich von der gesammten
Capital- und Couponsbesitzenden Bourgeoisie Europens eine erzene Denk- und
Danksäule errichtet werden, denn sie allein hat den Selbstmord an jener
socialistischen Partei vollzogen, deren vor Jahresfrist noch von dem umsich¬
tigen Politiker für die Zukunft nicht ohne manche Fährlichkeits-Besorgniß
gedacht wurde.

Herr I. B. von Schweitzer hat sich dafür, nachdem er dem Socialismus
und der Demokratie Valet gegeben, der dramatischen Literatur in die
stets geöffneten Arme geworfen und so wurde denn schon nach 4 Wochen
das zweite seiner theatralischen Kinder hier auf die Bühne gebracht. Ich'
gestehe offen, daß ich Ur. I "Canossa" nicht kenne, aber über Ur. II "Drei
Staatsverbrecher," ein Drama, welches der Verfasser als Jntriguenstück be.
zeichnet, kann ich nach eigenem Hören und Sehen urtheilen. Gern will ich
offen sein und bekennen, daß ich in diesem Stück Anderes und Besseres ge¬
funden, als ich erwartet. Da die Intrigue sich unter Ludwig XVI. ent¬
wickelt, so nahm meine vorausschaffende Phantasie das Personenverzeichniß
des Theaterzettels an der unvermeidlichen Littfaßsäule für ein einladendes
Präludium zu einem scheuet- und Greueldrama aus der französischen Sturm¬
und Drangpenode. Die große Revolution, so dachte ich, wird ihre grellen
Fanale über Helden und Heldinnen leuchten lassen und der ewige Gegensatz
zwischen Hoch und Nieder, Arm und Reich, Capital und Arbeit wird in wil¬
der Alfresco-Manier der Nachhilfe bedürftigen Einbildungskraft der Massen
vor die Augen geführt werden, um dieselben für eine bestimmte Tendenz zu
eleetrisiren. Aber weit gefehlt! Wie ein Schwalbennest an einem Palast, so
ist hier eine kleine Liebesintrigue an die vielbewegte Zeit angeklebt, welche der Revo¬
lution vorherging und die Figuren des Stückes erweisen sich durchgängig als
directe Nachkommen jener Bühnenmenschen, welche uns durch Scribe und die
Birchpfeiffer zu alten, längst lieb und vertraut gewordenen Bekannten gewor¬
den sind. Da ist dasselbe unglaublich naive, trotzige und dabei verschmitzte
junge Mädchen, das von jeher alle Intriguen einfädelte und nie um einen
Ausweg verlegen ist, wenn es gilt, sich durch eine Nothlüge aus der selbstge¬
legten Schlinge zu ziehen; da ist derselbe alte Marquis, der im sechsundsechs-
zigsten Jahre noch nicht der Koketterie mit den Gaben Amors zu entsagen
vermochte, derselbe Heldenvater, der zwanzig Mal sein "Niemals" ausruft,
wenn es der Vermählung seiner Tochter mit einem nicht gebilligten Freier
gilt und der es doch zum 21. Male con Krasili, unweigerlich zurückzieht, da
sind . . aber wozu sie noch aufzählen, die bewährten Jngredenzien solch eines
packenden, überall seines Erfolgs gewissen Schauspiels, in dem zum Schluß
natürlich "Alle sich kriegen!" Herrn Schweitzer war es ersichtlich nur um


Grenzboten I. 1871. 100

Opfer zu bringen, die ihm wahrscheinlich jetzt weniger lebensfähig erscheint,
denn je zuvor. Der Pariser Commune müßte eigentlich von der gesammten
Capital- und Couponsbesitzenden Bourgeoisie Europens eine erzene Denk- und
Danksäule errichtet werden, denn sie allein hat den Selbstmord an jener
socialistischen Partei vollzogen, deren vor Jahresfrist noch von dem umsich¬
tigen Politiker für die Zukunft nicht ohne manche Fährlichkeits-Besorgniß
gedacht wurde.

Herr I. B. von Schweitzer hat sich dafür, nachdem er dem Socialismus
und der Demokratie Valet gegeben, der dramatischen Literatur in die
stets geöffneten Arme geworfen und so wurde denn schon nach 4 Wochen
das zweite seiner theatralischen Kinder hier auf die Bühne gebracht. Ich'
gestehe offen, daß ich Ur. I „Canossa" nicht kenne, aber über Ur. II „Drei
Staatsverbrecher," ein Drama, welches der Verfasser als Jntriguenstück be.
zeichnet, kann ich nach eigenem Hören und Sehen urtheilen. Gern will ich
offen sein und bekennen, daß ich in diesem Stück Anderes und Besseres ge¬
funden, als ich erwartet. Da die Intrigue sich unter Ludwig XVI. ent¬
wickelt, so nahm meine vorausschaffende Phantasie das Personenverzeichniß
des Theaterzettels an der unvermeidlichen Littfaßsäule für ein einladendes
Präludium zu einem scheuet- und Greueldrama aus der französischen Sturm¬
und Drangpenode. Die große Revolution, so dachte ich, wird ihre grellen
Fanale über Helden und Heldinnen leuchten lassen und der ewige Gegensatz
zwischen Hoch und Nieder, Arm und Reich, Capital und Arbeit wird in wil¬
der Alfresco-Manier der Nachhilfe bedürftigen Einbildungskraft der Massen
vor die Augen geführt werden, um dieselben für eine bestimmte Tendenz zu
eleetrisiren. Aber weit gefehlt! Wie ein Schwalbennest an einem Palast, so
ist hier eine kleine Liebesintrigue an die vielbewegte Zeit angeklebt, welche der Revo¬
lution vorherging und die Figuren des Stückes erweisen sich durchgängig als
directe Nachkommen jener Bühnenmenschen, welche uns durch Scribe und die
Birchpfeiffer zu alten, längst lieb und vertraut gewordenen Bekannten gewor¬
den sind. Da ist dasselbe unglaublich naive, trotzige und dabei verschmitzte
junge Mädchen, das von jeher alle Intriguen einfädelte und nie um einen
Ausweg verlegen ist, wenn es gilt, sich durch eine Nothlüge aus der selbstge¬
legten Schlinge zu ziehen; da ist derselbe alte Marquis, der im sechsundsechs-
zigsten Jahre noch nicht der Koketterie mit den Gaben Amors zu entsagen
vermochte, derselbe Heldenvater, der zwanzig Mal sein „Niemals" ausruft,
wenn es der Vermählung seiner Tochter mit einem nicht gebilligten Freier
gilt und der es doch zum 21. Male con Krasili, unweigerlich zurückzieht, da
sind . . aber wozu sie noch aufzählen, die bewährten Jngredenzien solch eines
packenden, überall seines Erfolgs gewissen Schauspiels, in dem zum Schluß
natürlich „Alle sich kriegen!" Herrn Schweitzer war es ersichtlich nur um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/273>, abgerufen am 28.09.2024.