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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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"Enthüllung" gar nicht, oder als ganz leichten Berliner Wind, der so schlecht
wie möglich geeignet sei, die biedern Franzosen zu verdächtigen.

Von allen Enthüllungen aber blieb gerade diese die unbestrittenste. In
seiner Depesche vom 29. Juli 1870 an den Grafen Bernstorff in London
sagt Graf Bismarck:*) "Vor Ausbruch des österreichischen Krieges 1866 sind
mir theils durch Verwandte Sr. Maj. des Kaisers der Franzosen, theils durch
vertrauliche Agenten Vorschläge gemacht worden, welche jederzeit dahin gingen,
kleinere oder größere Transactionen zum Behuf beiderseitiger Vergrößerung zu
Stande zu bringen; es handelte sich bald um Luxemburg oder um die Grenze
von 1814 mit Landau und Saarbrücken, bald um größere Objecte,
von denen die französische Schweiz und die Frage, wo die Sprachgrenze
in Piemont zu ziehen sei, nicht ausgeschlossen blieben." Und in einer Nach¬
schrift zu dieser Note bemerkte Graf Bismarck nochmals: "daß bei jenen Be¬
sprechungen auch von der französischen Schweiz die Rede war" u. f. w. Es
ist zur Genüge bekannt, daß der Herzog von Grammont diese vernichtende
Depesche in seiner Antwort vom 3. August zu widerlegen versuchte, freilich ohne
irgend eine der von Bismarck bewiesenen schmachvollen Thatsachen zu ent¬
kräften. Nur das Eine wagte er zu leugnen: "der Kaiser Napoleon habe
Preußen niemals einen Vertragsentwurf wegen der Besitzergreifung Belgiens
vorgelegt." Daß Frankreich von Preußen begehrlich die Zustimmung zur
Annexion der französischen Schweiz verlangt habe, stellt weder Grammont
noch Benedetti in Abrede. Darin schien ihnen nicht einmal ein Verbrechen
'zu liegen. Ihre Lügentalente sparten sie auf, um den von Benedetti's Hand
entworfenen Annexionsplan gegen Belgien wegzulügen, der in der Bismarck-
schen Note vom 29. Juli bekanntlich im Wortlaut veröffentlicht wurde. Wie,
wenn der deutsche Staatsmann dieselbe Frivolität der Anschauung besaß, als
die kaiserlichen Minister und Gesandten? Wenn er dieselbe Gleichgültigkeit
und Verachtung gegen die Freiheit und Selbstständigkeit der^ Schweiz em¬
pfand, und gegen die europäischen Verträge, welche diese Unnahängigkeit ga-
rantiren? In den Augen eines perfiden und brutalen Staatsmannes, wie
Bismarck der Mehrzahl Eurer Mitbürger gilt, hätte der Plan wie gesagt,
viel Verführerisches gehabt. Ein guter Theil der französischen Heerkraft, die
gegen uns auf den Schlachtfeldern von Weißenburg bis Sedan, und von der
Lisaine bis an die Loire verspritzt wurde, wäre auf Kosten der Schweiz im
Berner Jura, am Genfer See und im Wallis in Blut geflossen. -- Endlich
erinnert Euch, wie beim Ausbruche des Krieges von dem deutschen Oberfeld-



Schmeidler, Europa und der deutsch-französische Krieg I. Bd. S. ,134 sg., aus dem
Preuß. Staatsanzeiger.

„Enthüllung" gar nicht, oder als ganz leichten Berliner Wind, der so schlecht
wie möglich geeignet sei, die biedern Franzosen zu verdächtigen.

Von allen Enthüllungen aber blieb gerade diese die unbestrittenste. In
seiner Depesche vom 29. Juli 1870 an den Grafen Bernstorff in London
sagt Graf Bismarck:*) „Vor Ausbruch des österreichischen Krieges 1866 sind
mir theils durch Verwandte Sr. Maj. des Kaisers der Franzosen, theils durch
vertrauliche Agenten Vorschläge gemacht worden, welche jederzeit dahin gingen,
kleinere oder größere Transactionen zum Behuf beiderseitiger Vergrößerung zu
Stande zu bringen; es handelte sich bald um Luxemburg oder um die Grenze
von 1814 mit Landau und Saarbrücken, bald um größere Objecte,
von denen die französische Schweiz und die Frage, wo die Sprachgrenze
in Piemont zu ziehen sei, nicht ausgeschlossen blieben." Und in einer Nach¬
schrift zu dieser Note bemerkte Graf Bismarck nochmals: „daß bei jenen Be¬
sprechungen auch von der französischen Schweiz die Rede war" u. f. w. Es
ist zur Genüge bekannt, daß der Herzog von Grammont diese vernichtende
Depesche in seiner Antwort vom 3. August zu widerlegen versuchte, freilich ohne
irgend eine der von Bismarck bewiesenen schmachvollen Thatsachen zu ent¬
kräften. Nur das Eine wagte er zu leugnen: „der Kaiser Napoleon habe
Preußen niemals einen Vertragsentwurf wegen der Besitzergreifung Belgiens
vorgelegt." Daß Frankreich von Preußen begehrlich die Zustimmung zur
Annexion der französischen Schweiz verlangt habe, stellt weder Grammont
noch Benedetti in Abrede. Darin schien ihnen nicht einmal ein Verbrechen
'zu liegen. Ihre Lügentalente sparten sie auf, um den von Benedetti's Hand
entworfenen Annexionsplan gegen Belgien wegzulügen, der in der Bismarck-
schen Note vom 29. Juli bekanntlich im Wortlaut veröffentlicht wurde. Wie,
wenn der deutsche Staatsmann dieselbe Frivolität der Anschauung besaß, als
die kaiserlichen Minister und Gesandten? Wenn er dieselbe Gleichgültigkeit
und Verachtung gegen die Freiheit und Selbstständigkeit der^ Schweiz em¬
pfand, und gegen die europäischen Verträge, welche diese Unnahängigkeit ga-
rantiren? In den Augen eines perfiden und brutalen Staatsmannes, wie
Bismarck der Mehrzahl Eurer Mitbürger gilt, hätte der Plan wie gesagt,
viel Verführerisches gehabt. Ein guter Theil der französischen Heerkraft, die
gegen uns auf den Schlachtfeldern von Weißenburg bis Sedan, und von der
Lisaine bis an die Loire verspritzt wurde, wäre auf Kosten der Schweiz im
Berner Jura, am Genfer See und im Wallis in Blut geflossen. — Endlich
erinnert Euch, wie beim Ausbruche des Krieges von dem deutschen Oberfeld-



Schmeidler, Europa und der deutsch-französische Krieg I. Bd. S. ,134 sg., aus dem
Preuß. Staatsanzeiger.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/26>, abgerufen am 28.09.2024.