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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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drüber für das deutsche Volksthum, übergegriffen haben, so wird das nun¬
mehr noch weniger zu vermeiden sein, denn wir gelangen nun zu der Ent¬
wicklung der geistigen und sittlichen Kräfte gegenüber den materi¬
ellen. Wenn die Grundsätze der Volkswirthschaft überall dieselben sind, ob
sie in Rußland, Amerika oder Deutschland zur Anwendung kommen, bewegt
sich das geistige und sittliche, also auch das politische Leben wenigstens bei
großen Völkern auf geschichtlich entwickelten, eigenartigen Grundlagen, während
kleine Völkerschaften sich nach den Vorbildern der großen richten müssen.
Handelt es sich also darum, das geistige und sittliche Leben der Elsässer zu
heben und zu kräftigen, so gilt es, dasselbe von den romanischen Formen
zu befreien, in welchen es durch zwei Jahrhunderte künstlich und gewaltsam
eingezwängt wurde, und es wieder in deutsche überzuleiten.

Eine dieser beengenden Formen ist die Centralisation, vermöge deren
jedes landschaftliche und örtliche Leben, jede provinziale, sogar jede persönliche
Selbständigkeit und Eigenartigkeit unterdrückt wird, und jeder Mensch einzig
als Franzose, als Zugehöriger des ganzen Volkes und Reiches sich fühlen
und eine öffentliche Thätigkeit ausüben kann. Da aber nicht jeder Mensch
im Stande ist, den Werth des eignen Mitwirkens in der ungeheuren Gesammt"
heit, des Tropfens im Meere, zu schätzen und zu fühlen, so tritt an die
Stelle des allgemeinen regen Eifers für das Gesammtwohl eine todte Unter¬
würfigkeit unter die Leitung der^ Werkzeuge der Centralgewalt und ein Aus¬
beuten des Staates durch seine Organe für deren besonderen Vortheil unter
dem Aushängeschilde der Vaterlandsliebe oder der Pflichttreue gegen den zei¬
tigen Inhaber der höchsten Gewalt. Periodenweise kommt man zur Erkennt¬
niß dieser Mißstände; alsdann schlägt man für eine kurze Zeit in das
grade Gegentheil um, d. h. jeder Einzelne betheiligt sich an der Leitung des
ganzen Staates, das nennt man in Frankreich Revolution. Da aber ein
solcher Zustand nicht lange auszuhalten ist, so kehrt man bald zu dem alten
System zurück, indem man nur seine Werkzeuge wechselt.

Dieser verderblichen, geschichtlich entwickelten Eigenart der Franzosen
gegenüber bringen wir Deutsche den Elsassern keine so große Begeisterung
oder auch nur Neigung für die Revolution, dagegen standhaftes Erstreben
des Fortschritts durch Reformen; ferner bei aller Beschränkung doch eine viel
größere Selbständigkeit der Gemeinden und der Provinzen, ein Gewährenlassen
ihrer Eigenthümlichkeiten, welches die Elsasser trotz ihrer Anhänglichkeit an
Frankreich niemals aufgehört haben für sich in Anspruch zu nehmen, und
welches noch Diedrich, der erste Maire von Straßburg, mit Einsetzung seines
Lebens von den Schreckensmännern forderte.

Es ist schon ein großer Mangel in der französischen Gemeinde-
Verfassung, daß die Vorsteher, weder der Maire, noch die Beigeordneten


drüber für das deutsche Volksthum, übergegriffen haben, so wird das nun¬
mehr noch weniger zu vermeiden sein, denn wir gelangen nun zu der Ent¬
wicklung der geistigen und sittlichen Kräfte gegenüber den materi¬
ellen. Wenn die Grundsätze der Volkswirthschaft überall dieselben sind, ob
sie in Rußland, Amerika oder Deutschland zur Anwendung kommen, bewegt
sich das geistige und sittliche, also auch das politische Leben wenigstens bei
großen Völkern auf geschichtlich entwickelten, eigenartigen Grundlagen, während
kleine Völkerschaften sich nach den Vorbildern der großen richten müssen.
Handelt es sich also darum, das geistige und sittliche Leben der Elsässer zu
heben und zu kräftigen, so gilt es, dasselbe von den romanischen Formen
zu befreien, in welchen es durch zwei Jahrhunderte künstlich und gewaltsam
eingezwängt wurde, und es wieder in deutsche überzuleiten.

Eine dieser beengenden Formen ist die Centralisation, vermöge deren
jedes landschaftliche und örtliche Leben, jede provinziale, sogar jede persönliche
Selbständigkeit und Eigenartigkeit unterdrückt wird, und jeder Mensch einzig
als Franzose, als Zugehöriger des ganzen Volkes und Reiches sich fühlen
und eine öffentliche Thätigkeit ausüben kann. Da aber nicht jeder Mensch
im Stande ist, den Werth des eignen Mitwirkens in der ungeheuren Gesammt«
heit, des Tropfens im Meere, zu schätzen und zu fühlen, so tritt an die
Stelle des allgemeinen regen Eifers für das Gesammtwohl eine todte Unter¬
würfigkeit unter die Leitung der^ Werkzeuge der Centralgewalt und ein Aus¬
beuten des Staates durch seine Organe für deren besonderen Vortheil unter
dem Aushängeschilde der Vaterlandsliebe oder der Pflichttreue gegen den zei¬
tigen Inhaber der höchsten Gewalt. Periodenweise kommt man zur Erkennt¬
niß dieser Mißstände; alsdann schlägt man für eine kurze Zeit in das
grade Gegentheil um, d. h. jeder Einzelne betheiligt sich an der Leitung des
ganzen Staates, das nennt man in Frankreich Revolution. Da aber ein
solcher Zustand nicht lange auszuhalten ist, so kehrt man bald zu dem alten
System zurück, indem man nur seine Werkzeuge wechselt.

Dieser verderblichen, geschichtlich entwickelten Eigenart der Franzosen
gegenüber bringen wir Deutsche den Elsassern keine so große Begeisterung
oder auch nur Neigung für die Revolution, dagegen standhaftes Erstreben
des Fortschritts durch Reformen; ferner bei aller Beschränkung doch eine viel
größere Selbständigkeit der Gemeinden und der Provinzen, ein Gewährenlassen
ihrer Eigenthümlichkeiten, welches die Elsasser trotz ihrer Anhänglichkeit an
Frankreich niemals aufgehört haben für sich in Anspruch zu nehmen, und
welches noch Diedrich, der erste Maire von Straßburg, mit Einsetzung seines
Lebens von den Schreckensmännern forderte.

Es ist schon ein großer Mangel in der französischen Gemeinde-
Verfassung, daß die Vorsteher, weder der Maire, noch die Beigeordneten


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[0148] drüber für das deutsche Volksthum, übergegriffen haben, so wird das nun¬ mehr noch weniger zu vermeiden sein, denn wir gelangen nun zu der Ent¬ wicklung der geistigen und sittlichen Kräfte gegenüber den materi¬ ellen. Wenn die Grundsätze der Volkswirthschaft überall dieselben sind, ob sie in Rußland, Amerika oder Deutschland zur Anwendung kommen, bewegt sich das geistige und sittliche, also auch das politische Leben wenigstens bei großen Völkern auf geschichtlich entwickelten, eigenartigen Grundlagen, während kleine Völkerschaften sich nach den Vorbildern der großen richten müssen. Handelt es sich also darum, das geistige und sittliche Leben der Elsässer zu heben und zu kräftigen, so gilt es, dasselbe von den romanischen Formen zu befreien, in welchen es durch zwei Jahrhunderte künstlich und gewaltsam eingezwängt wurde, und es wieder in deutsche überzuleiten. Eine dieser beengenden Formen ist die Centralisation, vermöge deren jedes landschaftliche und örtliche Leben, jede provinziale, sogar jede persönliche Selbständigkeit und Eigenartigkeit unterdrückt wird, und jeder Mensch einzig als Franzose, als Zugehöriger des ganzen Volkes und Reiches sich fühlen und eine öffentliche Thätigkeit ausüben kann. Da aber nicht jeder Mensch im Stande ist, den Werth des eignen Mitwirkens in der ungeheuren Gesammt« heit, des Tropfens im Meere, zu schätzen und zu fühlen, so tritt an die Stelle des allgemeinen regen Eifers für das Gesammtwohl eine todte Unter¬ würfigkeit unter die Leitung der^ Werkzeuge der Centralgewalt und ein Aus¬ beuten des Staates durch seine Organe für deren besonderen Vortheil unter dem Aushängeschilde der Vaterlandsliebe oder der Pflichttreue gegen den zei¬ tigen Inhaber der höchsten Gewalt. Periodenweise kommt man zur Erkennt¬ niß dieser Mißstände; alsdann schlägt man für eine kurze Zeit in das grade Gegentheil um, d. h. jeder Einzelne betheiligt sich an der Leitung des ganzen Staates, das nennt man in Frankreich Revolution. Da aber ein solcher Zustand nicht lange auszuhalten ist, so kehrt man bald zu dem alten System zurück, indem man nur seine Werkzeuge wechselt. Dieser verderblichen, geschichtlich entwickelten Eigenart der Franzosen gegenüber bringen wir Deutsche den Elsassern keine so große Begeisterung oder auch nur Neigung für die Revolution, dagegen standhaftes Erstreben des Fortschritts durch Reformen; ferner bei aller Beschränkung doch eine viel größere Selbständigkeit der Gemeinden und der Provinzen, ein Gewährenlassen ihrer Eigenthümlichkeiten, welches die Elsasser trotz ihrer Anhänglichkeit an Frankreich niemals aufgehört haben für sich in Anspruch zu nehmen, und welches noch Diedrich, der erste Maire von Straßburg, mit Einsetzung seines Lebens von den Schreckensmännern forderte. Es ist schon ein großer Mangel in der französischen Gemeinde- Verfassung, daß die Vorsteher, weder der Maire, noch die Beigeordneten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/148>, abgerufen am 29.09.2024.