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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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mals als ausnahmsweise und bedauerliche Übertretungen feindlicherseits an¬
erkannt worden sind.

"Der Bruch des Ehrenwortes Seitens auf Ehrenwort entlassener Ge¬
fangener ist nicht nur ein Privatdelict, sondern ein völkerrechtswidriger Act,
und der Staat, der diese Handlung an seinen Angehörigen nicht ahndet,
wenn er die Macht dazu hat, macht sich eines Bruches des Völkerrechts schul¬
dig." Aber die auf Ehrenwort entlassenen französischen Gefangenen wurden
von ihrer Regierung mit Ehren überhäuft, wenn sie, wortbrüchig, zu neuem
Waffendienst sich meldeten.

Giebt es wohl ein Document, welches mehr verdiente, eine unbestrittene
Quelle des modernen Völkerrechts genannt zu werden, als die Genfer Con¬
vention vom 22. August 1864? Aber unzählig sind die Fälle, daß in diesem
Kriege gegen im Dienst befindliches deutsches Sanitätspersonal mit vollem
Bewußtsein Acte der Feindseligkeit begangen, die international anerkannten
Zeichen des Conventionsdienstes mißachtet wurden -- und zwar nicht etwa
nur im Drange der Umstände. Wer weiß aber von einem Eingeständniß des
Feindes, daß er sich mit diesen Acten eines Völkerrechtsbruches schuldig ge¬
macht? Wer weiß von dem Versuche einer Entschuldigung oder Rechtferti¬
gung dieserhalb auf seiner Seite? Oder mindert sich auch nur die Zahl der
Fälle in Folge eindringlicher Mahnung an die begangene Verletzung? Und
weiter: Die Rechte und Pflichten der Neutralen gelten im Großen und Ganzen
für unzweideutig festgestellt. Die Duldung von Handlungen der eigenen Un¬
terthanen des neutralen Staates, welche eine positive Begünstigung eines
kriegführenden Theiles involviren, gilt als Neutralitätsbruch. Vor aller
Augen versahen britische Unterthanen Frankreich mit Kriegführungsmitteln
aller Art. Was hatte aber Lord Granville dem Grafen Bernstorff zu erwi¬
dern, als dieser jene Duldung als Bruch des Völkerrechtes kennzeichnete?
Wenn wir die umfangreiche Korrespondenz des englischen auswärtigen Amtes
ihrer diplomatischen Phrasen entkleiden, so bleibt davon nichts übrig, als eine
Negation des angeblich so fest begründeten Völkerrechtes. Und ganz ähnlich
stand es mit dem Verhalten Rußlands gegenüber dem angeblich unumstößlich
feststehenden Satze, welchen das Völkerrecht aus dem Privatrechte herüberge¬
nommen hat, daß nämlich mehrseitige Verträge vor Ablauf der Zeit nicht
ohne Zustimmung aller Paciscenten gelöst werden können.

Fürwahr -- wir find, obwohl beinahe um ein Jahrhundert älter und
reicher geworden an Gesittung und internationalen Verkehrsbeziehungen, doch
hinsichtlich der thatsächlichen Geltung und also des Glaubens an die Existenz¬
berechtigung des Völkerrechtes noch nahezu auf demselben Punkte, wie da¬
mals, wo Kant keinen Anstoß erregte mit dem Ausspruch! "Bei dem Begriffe
des Völkerrechts, als eines Rechts zum Kriege läßt sich eigentlich gar nichts


mals als ausnahmsweise und bedauerliche Übertretungen feindlicherseits an¬
erkannt worden sind.

„Der Bruch des Ehrenwortes Seitens auf Ehrenwort entlassener Ge¬
fangener ist nicht nur ein Privatdelict, sondern ein völkerrechtswidriger Act,
und der Staat, der diese Handlung an seinen Angehörigen nicht ahndet,
wenn er die Macht dazu hat, macht sich eines Bruches des Völkerrechts schul¬
dig." Aber die auf Ehrenwort entlassenen französischen Gefangenen wurden
von ihrer Regierung mit Ehren überhäuft, wenn sie, wortbrüchig, zu neuem
Waffendienst sich meldeten.

Giebt es wohl ein Document, welches mehr verdiente, eine unbestrittene
Quelle des modernen Völkerrechts genannt zu werden, als die Genfer Con¬
vention vom 22. August 1864? Aber unzählig sind die Fälle, daß in diesem
Kriege gegen im Dienst befindliches deutsches Sanitätspersonal mit vollem
Bewußtsein Acte der Feindseligkeit begangen, die international anerkannten
Zeichen des Conventionsdienstes mißachtet wurden — und zwar nicht etwa
nur im Drange der Umstände. Wer weiß aber von einem Eingeständniß des
Feindes, daß er sich mit diesen Acten eines Völkerrechtsbruches schuldig ge¬
macht? Wer weiß von dem Versuche einer Entschuldigung oder Rechtferti¬
gung dieserhalb auf seiner Seite? Oder mindert sich auch nur die Zahl der
Fälle in Folge eindringlicher Mahnung an die begangene Verletzung? Und
weiter: Die Rechte und Pflichten der Neutralen gelten im Großen und Ganzen
für unzweideutig festgestellt. Die Duldung von Handlungen der eigenen Un¬
terthanen des neutralen Staates, welche eine positive Begünstigung eines
kriegführenden Theiles involviren, gilt als Neutralitätsbruch. Vor aller
Augen versahen britische Unterthanen Frankreich mit Kriegführungsmitteln
aller Art. Was hatte aber Lord Granville dem Grafen Bernstorff zu erwi¬
dern, als dieser jene Duldung als Bruch des Völkerrechtes kennzeichnete?
Wenn wir die umfangreiche Korrespondenz des englischen auswärtigen Amtes
ihrer diplomatischen Phrasen entkleiden, so bleibt davon nichts übrig, als eine
Negation des angeblich so fest begründeten Völkerrechtes. Und ganz ähnlich
stand es mit dem Verhalten Rußlands gegenüber dem angeblich unumstößlich
feststehenden Satze, welchen das Völkerrecht aus dem Privatrechte herüberge¬
nommen hat, daß nämlich mehrseitige Verträge vor Ablauf der Zeit nicht
ohne Zustimmung aller Paciscenten gelöst werden können.

Fürwahr — wir find, obwohl beinahe um ein Jahrhundert älter und
reicher geworden an Gesittung und internationalen Verkehrsbeziehungen, doch
hinsichtlich der thatsächlichen Geltung und also des Glaubens an die Existenz¬
berechtigung des Völkerrechtes noch nahezu auf demselben Punkte, wie da¬
mals, wo Kant keinen Anstoß erregte mit dem Ausspruch! „Bei dem Begriffe
des Völkerrechts, als eines Rechts zum Kriege läßt sich eigentlich gar nichts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/10>, abgerufen am 28.09.2024.