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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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der innern Zerwürfnisse zu beklagen. Weder die formelle Aufrechthaltung der
Verfassung, noch die vollständige Beseitigung des Coneordats hatte das
Mißtrauen in die ungleichartigen Elemente eines Cabinets zu zerstreuen ver¬
mocht, dessen Handlungen mit den Erklärungen der Thronrede in Widerspruch
standen, das mit einem Schlage drei pflichttreue Statthalter von ihren wichti¬
gen Posten enthob, weil sie gegen die föderalistischen Gesinnungsgenossen des
Freiherrn Petrino für die Vertagung des Reichsraths gestimmt hatten, und
das vielleicht nur durch die Rückwirkung der deutschen Siege auf die öffentliche
Meinung von einem Staatsstreich zurückgehalten wurde.

Unfraglich hatten die Erfolge des deutschen Heers das Selbstgefühl der
Oestreicher in hohem Grade gekräftigt und der Hoffnung auf endliche Heilung
der Schäden, an denen das Staatsleben hier seit Jahrzehnten krankt, neue
Anregung gegeben. Waren es doch in den schlimmsten Zeiten immer die
Deutschen gewesen, deren treue Hingabe für das Vaterland den wankenden
Bau des östreichischen Staats vor der Zertrümmerung geschützt, deren kraft¬
voller Arm die Fahne des Rechts und der Freiheit in den wildesten Stürmen
hochgehalten hatte. Sollte das deutsche Volk in Oestreich nicht wieder vor Allen
berufen sein, dem zweifelhaften Verfassungsleben eine sichere Grundlage zu
geben, die Gegenstrebungen der Feudalen und Föderalisten auf Untergrabung
des Nechtsbodens zurückzuweisen? Noch konnte die Verfassungspartei des
Abgeordnetenhauses gegen die vereinigten Gruppen der klerikalen und feudalen
Gegner das Feld behaupten, obwohl ihr die innere Uebereinstimmung in jenen
wichtigen Fragen fehlte, von deren Entscheidung das Schicksal der Verfassung
vorzugsweise abzuhängen schien, und die Zuversicht auf die Erfolge ihrer Be¬
mühungen, die Bürgschaften dieser Verfassung sicherzustellen. Denn trotz des
correcten Standpunktes, den die Thronrede festhielt und trotz der lichtvollen
Perspective, welche die Ankündigung freisinniger Gesetze zur Regelung der
schwebenden Fragen zwischen Kirche und Staat eröffnete, deuteten verschiedene
Anzeichen darauf hin, daß das Ministerium einer Reaction auf dem Boden
der Verfassung nicht abgeneigt sein würde; und obwohl die Ausschreibung
directer Wahlen in Böhmen einen Zuwachs der Verfassungspartei ergeben
hatte, welcher zur Abwehr parlamentarischer Vergewaltigung hinreichte, blieb
doch die Aussicht getrübt, für die Umgestaltung des Wahlgesetzes zur Los¬
lösung'des Reichsraths von den Landtagen die erforderliche Zweidrittelmehrheit
zu gewinnen.

Unter diesen mißlichen Umständen erregte die Haltung des Herren¬
hauses, das als ein treuer Hort der Verfassung und als strenger Richter
des Ministeriums auftrat, allgemeine Aufmerksamkeit. Wenn der Adreßent-
wurf ein klares Spiegelbild der verworrenen Lage entwarf, die Unbotmäßigkeit
gegen das giltige Recht und Gesetz, den zunehmenden Zwiespalt der Parteien


der innern Zerwürfnisse zu beklagen. Weder die formelle Aufrechthaltung der
Verfassung, noch die vollständige Beseitigung des Coneordats hatte das
Mißtrauen in die ungleichartigen Elemente eines Cabinets zu zerstreuen ver¬
mocht, dessen Handlungen mit den Erklärungen der Thronrede in Widerspruch
standen, das mit einem Schlage drei pflichttreue Statthalter von ihren wichti¬
gen Posten enthob, weil sie gegen die föderalistischen Gesinnungsgenossen des
Freiherrn Petrino für die Vertagung des Reichsraths gestimmt hatten, und
das vielleicht nur durch die Rückwirkung der deutschen Siege auf die öffentliche
Meinung von einem Staatsstreich zurückgehalten wurde.

Unfraglich hatten die Erfolge des deutschen Heers das Selbstgefühl der
Oestreicher in hohem Grade gekräftigt und der Hoffnung auf endliche Heilung
der Schäden, an denen das Staatsleben hier seit Jahrzehnten krankt, neue
Anregung gegeben. Waren es doch in den schlimmsten Zeiten immer die
Deutschen gewesen, deren treue Hingabe für das Vaterland den wankenden
Bau des östreichischen Staats vor der Zertrümmerung geschützt, deren kraft¬
voller Arm die Fahne des Rechts und der Freiheit in den wildesten Stürmen
hochgehalten hatte. Sollte das deutsche Volk in Oestreich nicht wieder vor Allen
berufen sein, dem zweifelhaften Verfassungsleben eine sichere Grundlage zu
geben, die Gegenstrebungen der Feudalen und Föderalisten auf Untergrabung
des Nechtsbodens zurückzuweisen? Noch konnte die Verfassungspartei des
Abgeordnetenhauses gegen die vereinigten Gruppen der klerikalen und feudalen
Gegner das Feld behaupten, obwohl ihr die innere Uebereinstimmung in jenen
wichtigen Fragen fehlte, von deren Entscheidung das Schicksal der Verfassung
vorzugsweise abzuhängen schien, und die Zuversicht auf die Erfolge ihrer Be¬
mühungen, die Bürgschaften dieser Verfassung sicherzustellen. Denn trotz des
correcten Standpunktes, den die Thronrede festhielt und trotz der lichtvollen
Perspective, welche die Ankündigung freisinniger Gesetze zur Regelung der
schwebenden Fragen zwischen Kirche und Staat eröffnete, deuteten verschiedene
Anzeichen darauf hin, daß das Ministerium einer Reaction auf dem Boden
der Verfassung nicht abgeneigt sein würde; und obwohl die Ausschreibung
directer Wahlen in Böhmen einen Zuwachs der Verfassungspartei ergeben
hatte, welcher zur Abwehr parlamentarischer Vergewaltigung hinreichte, blieb
doch die Aussicht getrübt, für die Umgestaltung des Wahlgesetzes zur Los¬
lösung'des Reichsraths von den Landtagen die erforderliche Zweidrittelmehrheit
zu gewinnen.

Unter diesen mißlichen Umständen erregte die Haltung des Herren¬
hauses, das als ein treuer Hort der Verfassung und als strenger Richter
des Ministeriums auftrat, allgemeine Aufmerksamkeit. Wenn der Adreßent-
wurf ein klares Spiegelbild der verworrenen Lage entwarf, die Unbotmäßigkeit
gegen das giltige Recht und Gesetz, den zunehmenden Zwiespalt der Parteien


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[0440] der innern Zerwürfnisse zu beklagen. Weder die formelle Aufrechthaltung der Verfassung, noch die vollständige Beseitigung des Coneordats hatte das Mißtrauen in die ungleichartigen Elemente eines Cabinets zu zerstreuen ver¬ mocht, dessen Handlungen mit den Erklärungen der Thronrede in Widerspruch standen, das mit einem Schlage drei pflichttreue Statthalter von ihren wichti¬ gen Posten enthob, weil sie gegen die föderalistischen Gesinnungsgenossen des Freiherrn Petrino für die Vertagung des Reichsraths gestimmt hatten, und das vielleicht nur durch die Rückwirkung der deutschen Siege auf die öffentliche Meinung von einem Staatsstreich zurückgehalten wurde. Unfraglich hatten die Erfolge des deutschen Heers das Selbstgefühl der Oestreicher in hohem Grade gekräftigt und der Hoffnung auf endliche Heilung der Schäden, an denen das Staatsleben hier seit Jahrzehnten krankt, neue Anregung gegeben. Waren es doch in den schlimmsten Zeiten immer die Deutschen gewesen, deren treue Hingabe für das Vaterland den wankenden Bau des östreichischen Staats vor der Zertrümmerung geschützt, deren kraft¬ voller Arm die Fahne des Rechts und der Freiheit in den wildesten Stürmen hochgehalten hatte. Sollte das deutsche Volk in Oestreich nicht wieder vor Allen berufen sein, dem zweifelhaften Verfassungsleben eine sichere Grundlage zu geben, die Gegenstrebungen der Feudalen und Föderalisten auf Untergrabung des Nechtsbodens zurückzuweisen? Noch konnte die Verfassungspartei des Abgeordnetenhauses gegen die vereinigten Gruppen der klerikalen und feudalen Gegner das Feld behaupten, obwohl ihr die innere Uebereinstimmung in jenen wichtigen Fragen fehlte, von deren Entscheidung das Schicksal der Verfassung vorzugsweise abzuhängen schien, und die Zuversicht auf die Erfolge ihrer Be¬ mühungen, die Bürgschaften dieser Verfassung sicherzustellen. Denn trotz des correcten Standpunktes, den die Thronrede festhielt und trotz der lichtvollen Perspective, welche die Ankündigung freisinniger Gesetze zur Regelung der schwebenden Fragen zwischen Kirche und Staat eröffnete, deuteten verschiedene Anzeichen darauf hin, daß das Ministerium einer Reaction auf dem Boden der Verfassung nicht abgeneigt sein würde; und obwohl die Ausschreibung directer Wahlen in Böhmen einen Zuwachs der Verfassungspartei ergeben hatte, welcher zur Abwehr parlamentarischer Vergewaltigung hinreichte, blieb doch die Aussicht getrübt, für die Umgestaltung des Wahlgesetzes zur Los¬ lösung'des Reichsraths von den Landtagen die erforderliche Zweidrittelmehrheit zu gewinnen. Unter diesen mißlichen Umständen erregte die Haltung des Herren¬ hauses, das als ein treuer Hort der Verfassung und als strenger Richter des Ministeriums auftrat, allgemeine Aufmerksamkeit. Wenn der Adreßent- wurf ein klares Spiegelbild der verworrenen Lage entwarf, die Unbotmäßigkeit gegen das giltige Recht und Gesetz, den zunehmenden Zwiespalt der Parteien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/440>, abgerufen am 22.07.2024.