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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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deuten Schritt vorwärts gemacht; aber nur um so beunruhigender war es,
nicht gleich völlig ans Ziel gekommen zu sein. Diese unbehagliche Stimmung
machte vornehmlich, daß die deutschen Börsen im gewachsenen Gefühl ihrer
Zuversicht auf Preußens Politik und Armee und auf Deutschlands unver¬
wüstliche Nationalkraft beinahe aufjubelten, als es um die Mitte vorigen
Sommers dann endlich zur Entscheidung kam.

Ihr Vertrauen hat sie denn auch nicht getäuscht. Lange vor dem Kriege
hat die ihn begleitende Geschäftszerrütterung in Deutschland aufgehört. Der
Seehandel zwar leidet noch, und der Eisenbahnverkehr hat im ganzen west¬
lichen Deutschland seine alte Regelmäßigkeit noch nicht wiedergewinnen können,
zu beträchtlichem Schaden des Handels, ja zur Herbeiführung förmlicher Noth¬
stände in einzelnen Geschäftszweigen, z. B. der Kohlenversorgung. Aber dies
sind partielle und locale Beschwerden, die das nationale Allgemeinbefinden
wenig afficiren. Der preußische Finanzminister kann die Hoffnung aussprechen,
das Kriegsjahr ohne Deficit abzuschließen: das sagt genug. Mit dem Frieden
wird die vollständige Genesung unseres Wirthschaftslebens ebenso rasch als
sicher eintreten. Dann aber stehen wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf
einem wie nie zuvor gesicherten Grunde politischer Sicherheit, vor einem ge¬
schäftlichen Aufschwung, bei welchem es eher zu zügeln als zu ermuntern und
anzuspornen geben wird.

Kriegs-Krisen mag das lebende Geschlecht dann ohne Vermessenheit hoffen
sobald nicht wieder durchmachen zu müssen. Gewöhnliche Handels-Krisen
werden leichter wiederkehren; wenn man nach Englands Erfahrung folgern
darf, ist man ihnen sogar in dem Grunde mehr ausgesetzt, wie Kriege und
innere Umwälzungen das complicirte Credit-Getriebe der Gegenwart zu be¬
drohen aufhören. Aber die Krisen von 1866 und 1870 werden das Ihrige
dazu beigetragen haben, daß wir künftige commercielle Vertrauensstörungen
eher überwinden. Die erstere hat es bereits gethan, indem sie uns von den
Wuchergesetzen, dem Zunftzwang und den Freizügigkeitsschranken definitiv
befreite, das Zollwesen reformabel machte, Handels- und Post-Verträge in
großer Menge nach sich zog; die letztere wird es in dem Maße thun, wie sie
die noch ungelösten Aufgaben einheitlichen zeitgemäßen Münzwesens, mannig¬
faltig-freier Entwickelung des Bankwesens und Vollendung des Freihandels
bald und glücklich löst.


A, Lammers.


deuten Schritt vorwärts gemacht; aber nur um so beunruhigender war es,
nicht gleich völlig ans Ziel gekommen zu sein. Diese unbehagliche Stimmung
machte vornehmlich, daß die deutschen Börsen im gewachsenen Gefühl ihrer
Zuversicht auf Preußens Politik und Armee und auf Deutschlands unver¬
wüstliche Nationalkraft beinahe aufjubelten, als es um die Mitte vorigen
Sommers dann endlich zur Entscheidung kam.

Ihr Vertrauen hat sie denn auch nicht getäuscht. Lange vor dem Kriege
hat die ihn begleitende Geschäftszerrütterung in Deutschland aufgehört. Der
Seehandel zwar leidet noch, und der Eisenbahnverkehr hat im ganzen west¬
lichen Deutschland seine alte Regelmäßigkeit noch nicht wiedergewinnen können,
zu beträchtlichem Schaden des Handels, ja zur Herbeiführung förmlicher Noth¬
stände in einzelnen Geschäftszweigen, z. B. der Kohlenversorgung. Aber dies
sind partielle und locale Beschwerden, die das nationale Allgemeinbefinden
wenig afficiren. Der preußische Finanzminister kann die Hoffnung aussprechen,
das Kriegsjahr ohne Deficit abzuschließen: das sagt genug. Mit dem Frieden
wird die vollständige Genesung unseres Wirthschaftslebens ebenso rasch als
sicher eintreten. Dann aber stehen wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf
einem wie nie zuvor gesicherten Grunde politischer Sicherheit, vor einem ge¬
schäftlichen Aufschwung, bei welchem es eher zu zügeln als zu ermuntern und
anzuspornen geben wird.

Kriegs-Krisen mag das lebende Geschlecht dann ohne Vermessenheit hoffen
sobald nicht wieder durchmachen zu müssen. Gewöhnliche Handels-Krisen
werden leichter wiederkehren; wenn man nach Englands Erfahrung folgern
darf, ist man ihnen sogar in dem Grunde mehr ausgesetzt, wie Kriege und
innere Umwälzungen das complicirte Credit-Getriebe der Gegenwart zu be¬
drohen aufhören. Aber die Krisen von 1866 und 1870 werden das Ihrige
dazu beigetragen haben, daß wir künftige commercielle Vertrauensstörungen
eher überwinden. Die erstere hat es bereits gethan, indem sie uns von den
Wuchergesetzen, dem Zunftzwang und den Freizügigkeitsschranken definitiv
befreite, das Zollwesen reformabel machte, Handels- und Post-Verträge in
großer Menge nach sich zog; die letztere wird es in dem Maße thun, wie sie
die noch ungelösten Aufgaben einheitlichen zeitgemäßen Münzwesens, mannig¬
faltig-freier Entwickelung des Bankwesens und Vollendung des Freihandels
bald und glücklich löst.


A, Lammers.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/438>, abgerufen am 22.07.2024.