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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Thür und Thor geöffnet. Denn das Reich Lothars umfaßte, abgesehn von
Italien und dem auch damals schon ganz romanischen Burgund, abgesehn
ferner von den durchaus deutschen Landen: Elsaß, Rheinfranken und Fries¬
land, auch noch die weiten schönen Flußgebiete der Maas und Mosel, in
welchen sich gallische und germanische Zunge nicht leicht von einander scheiden
ließen. Dem Erstgeborenen kamen diese Länder zu, als der Hausbesitz der
Pippiniden mit den alten Königssitzen Metz und Aachen, aber sie bildeten
ein so willkürlich begränztes Gebiet, daß diesem sogar eine bestimmte Be¬
nennung fehlte und es erst nach Lothars gleichnamigen Sohne den Namen
"Lotharingien" empfing.*) -- Dieser zweite Lothar starb kinderlos, und
von dem Augenblicke an begann der Kampf Deutschlands und Frankreichs
um das beiden Völkern so begehrenswerthe Zwischenland,

Eine düstere Tragik umgibt den Anfang dieses Kampfes. Denn gleich¬
wie die heilige Ueberlieferung den ersten Todtschlag unter den Menschen als
einen Brudermord gezeichnet hat, so ist auch der erste Krieg zwischen Frank¬
reich und Deutschland im eigentlichen Wortsinne ein Bruderkrieg! -- Er¬
öffnet wurde er (ein wunderbares Borzeichen für kommende Tage) frivol und
unbegründet, von französischer Seite. Sobald nämlich Karl der Kahle den
Tod seines Neffen erfuhr, eilte er auch an die Mosel, um Ludwig dem Deut¬
schen, seinem krank darniederliegenden Bruder, früherer Verabredungen unge¬
achtet, zuvor zu kommen in schleuniger Besitzergreifung des lotharischen Erb¬
theils. Mit dem heiligen Oele ließ er sich in Metz zum Könige salben, nahm
im Elsaß Huldigung entgegen und feierte übermüthig Weihnachten zu Aachen.
Hier jedoch erreichte ihn die Nachricht von Ludwigs Genesung und drohendem
Heerbannruf; in gebieterischer Haltung zogen die Deutschen heran; da wagte
es der westfränkische König nicht, Stand zu halten und er entschloß sich zum
Vergleich. Bei Mersen, auf einem Felsvorsprunge an der Maas, begegneten
einander die feindlichen Brüder und theilten das lotharische Reich. Es war
ein billiges Abkommen. In Burgund folgte die Theilungslinie dem Rhone
und der Saume, in Lothringen der Maas, so daß sie hier mit der Sprach¬
gränze ungefähr zusammenfielund insofern der Gränze des jetzigen Generalgouverne¬
ments im Elsaß entsprach, als Toul und Verdun bei Karl blieben, während
die Diöcese Metz und das Elsaß an Deutschland sielen. -- Diese neue Ueber-
einkunft bestand jedoch nicht länger als sechs Jahre. Kaum hatte Ludwig
der Deutsche die Augen geschlossen, so fiel auch wieder sein Bruder hinter¬
listig und treulos in Deutschland ein mit dem ausgesprochenen Zwecke ganz
Lothringen zu erwerben. Er rechnete auf die Uneinigkeit der drei erbberech-



-) "I,<MÄi'ii,Ali rsjznum." -- Die Bewohner nannte man demgemäß nach der in Deutsch¬
land üblichen patronymischcn Ableitung: I^drin'iugi, l^utriug!, Leute des Lothar.

Thür und Thor geöffnet. Denn das Reich Lothars umfaßte, abgesehn von
Italien und dem auch damals schon ganz romanischen Burgund, abgesehn
ferner von den durchaus deutschen Landen: Elsaß, Rheinfranken und Fries¬
land, auch noch die weiten schönen Flußgebiete der Maas und Mosel, in
welchen sich gallische und germanische Zunge nicht leicht von einander scheiden
ließen. Dem Erstgeborenen kamen diese Länder zu, als der Hausbesitz der
Pippiniden mit den alten Königssitzen Metz und Aachen, aber sie bildeten
ein so willkürlich begränztes Gebiet, daß diesem sogar eine bestimmte Be¬
nennung fehlte und es erst nach Lothars gleichnamigen Sohne den Namen
„Lotharingien" empfing.*) — Dieser zweite Lothar starb kinderlos, und
von dem Augenblicke an begann der Kampf Deutschlands und Frankreichs
um das beiden Völkern so begehrenswerthe Zwischenland,

Eine düstere Tragik umgibt den Anfang dieses Kampfes. Denn gleich¬
wie die heilige Ueberlieferung den ersten Todtschlag unter den Menschen als
einen Brudermord gezeichnet hat, so ist auch der erste Krieg zwischen Frank¬
reich und Deutschland im eigentlichen Wortsinne ein Bruderkrieg! — Er¬
öffnet wurde er (ein wunderbares Borzeichen für kommende Tage) frivol und
unbegründet, von französischer Seite. Sobald nämlich Karl der Kahle den
Tod seines Neffen erfuhr, eilte er auch an die Mosel, um Ludwig dem Deut¬
schen, seinem krank darniederliegenden Bruder, früherer Verabredungen unge¬
achtet, zuvor zu kommen in schleuniger Besitzergreifung des lotharischen Erb¬
theils. Mit dem heiligen Oele ließ er sich in Metz zum Könige salben, nahm
im Elsaß Huldigung entgegen und feierte übermüthig Weihnachten zu Aachen.
Hier jedoch erreichte ihn die Nachricht von Ludwigs Genesung und drohendem
Heerbannruf; in gebieterischer Haltung zogen die Deutschen heran; da wagte
es der westfränkische König nicht, Stand zu halten und er entschloß sich zum
Vergleich. Bei Mersen, auf einem Felsvorsprunge an der Maas, begegneten
einander die feindlichen Brüder und theilten das lotharische Reich. Es war
ein billiges Abkommen. In Burgund folgte die Theilungslinie dem Rhone
und der Saume, in Lothringen der Maas, so daß sie hier mit der Sprach¬
gränze ungefähr zusammenfielund insofern der Gränze des jetzigen Generalgouverne¬
ments im Elsaß entsprach, als Toul und Verdun bei Karl blieben, während
die Diöcese Metz und das Elsaß an Deutschland sielen. — Diese neue Ueber-
einkunft bestand jedoch nicht länger als sechs Jahre. Kaum hatte Ludwig
der Deutsche die Augen geschlossen, so fiel auch wieder sein Bruder hinter¬
listig und treulos in Deutschland ein mit dem ausgesprochenen Zwecke ganz
Lothringen zu erwerben. Er rechnete auf die Uneinigkeit der drei erbberech-



-) „I,<MÄi'ii,Ali rsjznum." — Die Bewohner nannte man demgemäß nach der in Deutsch¬
land üblichen patronymischcn Ableitung: I^drin'iugi, l^utriug!, Leute des Lothar.
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[0414] Thür und Thor geöffnet. Denn das Reich Lothars umfaßte, abgesehn von Italien und dem auch damals schon ganz romanischen Burgund, abgesehn ferner von den durchaus deutschen Landen: Elsaß, Rheinfranken und Fries¬ land, auch noch die weiten schönen Flußgebiete der Maas und Mosel, in welchen sich gallische und germanische Zunge nicht leicht von einander scheiden ließen. Dem Erstgeborenen kamen diese Länder zu, als der Hausbesitz der Pippiniden mit den alten Königssitzen Metz und Aachen, aber sie bildeten ein so willkürlich begränztes Gebiet, daß diesem sogar eine bestimmte Be¬ nennung fehlte und es erst nach Lothars gleichnamigen Sohne den Namen „Lotharingien" empfing.*) — Dieser zweite Lothar starb kinderlos, und von dem Augenblicke an begann der Kampf Deutschlands und Frankreichs um das beiden Völkern so begehrenswerthe Zwischenland, Eine düstere Tragik umgibt den Anfang dieses Kampfes. Denn gleich¬ wie die heilige Ueberlieferung den ersten Todtschlag unter den Menschen als einen Brudermord gezeichnet hat, so ist auch der erste Krieg zwischen Frank¬ reich und Deutschland im eigentlichen Wortsinne ein Bruderkrieg! — Er¬ öffnet wurde er (ein wunderbares Borzeichen für kommende Tage) frivol und unbegründet, von französischer Seite. Sobald nämlich Karl der Kahle den Tod seines Neffen erfuhr, eilte er auch an die Mosel, um Ludwig dem Deut¬ schen, seinem krank darniederliegenden Bruder, früherer Verabredungen unge¬ achtet, zuvor zu kommen in schleuniger Besitzergreifung des lotharischen Erb¬ theils. Mit dem heiligen Oele ließ er sich in Metz zum Könige salben, nahm im Elsaß Huldigung entgegen und feierte übermüthig Weihnachten zu Aachen. Hier jedoch erreichte ihn die Nachricht von Ludwigs Genesung und drohendem Heerbannruf; in gebieterischer Haltung zogen die Deutschen heran; da wagte es der westfränkische König nicht, Stand zu halten und er entschloß sich zum Vergleich. Bei Mersen, auf einem Felsvorsprunge an der Maas, begegneten einander die feindlichen Brüder und theilten das lotharische Reich. Es war ein billiges Abkommen. In Burgund folgte die Theilungslinie dem Rhone und der Saume, in Lothringen der Maas, so daß sie hier mit der Sprach¬ gränze ungefähr zusammenfielund insofern der Gränze des jetzigen Generalgouverne¬ ments im Elsaß entsprach, als Toul und Verdun bei Karl blieben, während die Diöcese Metz und das Elsaß an Deutschland sielen. — Diese neue Ueber- einkunft bestand jedoch nicht länger als sechs Jahre. Kaum hatte Ludwig der Deutsche die Augen geschlossen, so fiel auch wieder sein Bruder hinter¬ listig und treulos in Deutschland ein mit dem ausgesprochenen Zwecke ganz Lothringen zu erwerben. Er rechnete auf die Uneinigkeit der drei erbberech- -) „I,<MÄi'ii,Ali rsjznum." — Die Bewohner nannte man demgemäß nach der in Deutsch¬ land üblichen patronymischcn Ableitung: I^drin'iugi, l^utriug!, Leute des Lothar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/414>, abgerufen am 22.07.2024.