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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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unter dem zweiten Kaiserreich noch hinzu, so darf nicht Wunder nehmen,
wenn die Disciplin in einer sonst so tüchtigen und kriegerischen Armee der
Art untergraben wurde, daß sie zum großen Theil in völlige Anarchie und
Meuterei überging und man in jüngster Zeit Dinge erlebte, die uns noch
vor wenigen Monaten unglaublich schienen. Durch diese tief einfressenden und
zersetzenden Schäden nun war möglich, daß ein solches Heer so rasch über¬
wunden und fast gänzlich vernichtet wurde, in einer Weise, wie die Welt¬
geschichte kein zweites Beispiel aufzuweisen hat. Wir wollen der hohen
Tapferkeit, Hingebung und Intelligenz unseres herrlichen Heeres und seiner
tüchtigen Führer durchaus nicht zu nahe treten, wenn wir hier sagen, daß
neben diesen hohen Verdiensten doch auch die Schäden des Gegners nicht
wenig zu diesen raschen und erfolgreichen Siegen mit beigetragen haben.
Daß dieser unterliegen würde, daran zweifelte wohl kein Deutscher, der die
diesseitigen und französischen Zustände, namentlich in den Heeren, einiger¬
maßen kannte; daß aber Alles fo kommen würde, ließ sich wohl Nie¬
mand träumen.

Die jetzigen französischen Zustände haben vieles Aehnliche mit denen des
römischen Reiches zur Zeit seines Verfalles. Auch die Prätorianerwirthschaft
hat sich in Frankreich bereits angekündigt und das Heer ist auf dem besten
Wege, in die Fußtapfen des weiland römischen zu treten. Schon bei Na¬
poleon I. entschied das Heer nach seiner Rückkehr von Elba über die Herr¬
schaft in Frankreich, den Neffen schob es eben bei Seite, oder ließ ihn fallen,
und wer es weiter versteht, sich seine Gunst zu erwerben, wird mit ihm auch
in Frankreich die Gewalt in der Hand haben. Nach dem Gange der Welt¬
geschichte folgt fast stets auf die Anarchie die Säbelherrschaft, und mit dieser
gewöhnlich eine Dictatur.

Allerdings treffen diese bittern Vorwürfe und Schäden nicht ganz Frank¬
reich, nicht dessen ganzes Heer. Denn auch in diesem finden wir, wie überall,
gute Elemente, die es mit dem Vaterlande und der Nation wohl meinen; aber
diese wurden von dem so üppig rankenden Unkraut überwuchert, wenn auch
nicht erstickt.




Wer Berlins Haltung in den letzten Tagen bis heut zum 21. Januar,
mit der Stimmung vergleicht, die von einem Monat in der Residenz des


unter dem zweiten Kaiserreich noch hinzu, so darf nicht Wunder nehmen,
wenn die Disciplin in einer sonst so tüchtigen und kriegerischen Armee der
Art untergraben wurde, daß sie zum großen Theil in völlige Anarchie und
Meuterei überging und man in jüngster Zeit Dinge erlebte, die uns noch
vor wenigen Monaten unglaublich schienen. Durch diese tief einfressenden und
zersetzenden Schäden nun war möglich, daß ein solches Heer so rasch über¬
wunden und fast gänzlich vernichtet wurde, in einer Weise, wie die Welt¬
geschichte kein zweites Beispiel aufzuweisen hat. Wir wollen der hohen
Tapferkeit, Hingebung und Intelligenz unseres herrlichen Heeres und seiner
tüchtigen Führer durchaus nicht zu nahe treten, wenn wir hier sagen, daß
neben diesen hohen Verdiensten doch auch die Schäden des Gegners nicht
wenig zu diesen raschen und erfolgreichen Siegen mit beigetragen haben.
Daß dieser unterliegen würde, daran zweifelte wohl kein Deutscher, der die
diesseitigen und französischen Zustände, namentlich in den Heeren, einiger¬
maßen kannte; daß aber Alles fo kommen würde, ließ sich wohl Nie¬
mand träumen.

Die jetzigen französischen Zustände haben vieles Aehnliche mit denen des
römischen Reiches zur Zeit seines Verfalles. Auch die Prätorianerwirthschaft
hat sich in Frankreich bereits angekündigt und das Heer ist auf dem besten
Wege, in die Fußtapfen des weiland römischen zu treten. Schon bei Na¬
poleon I. entschied das Heer nach seiner Rückkehr von Elba über die Herr¬
schaft in Frankreich, den Neffen schob es eben bei Seite, oder ließ ihn fallen,
und wer es weiter versteht, sich seine Gunst zu erwerben, wird mit ihm auch
in Frankreich die Gewalt in der Hand haben. Nach dem Gange der Welt¬
geschichte folgt fast stets auf die Anarchie die Säbelherrschaft, und mit dieser
gewöhnlich eine Dictatur.

Allerdings treffen diese bittern Vorwürfe und Schäden nicht ganz Frank¬
reich, nicht dessen ganzes Heer. Denn auch in diesem finden wir, wie überall,
gute Elemente, die es mit dem Vaterlande und der Nation wohl meinen; aber
diese wurden von dem so üppig rankenden Unkraut überwuchert, wenn auch
nicht erstickt.




Wer Berlins Haltung in den letzten Tagen bis heut zum 21. Januar,
mit der Stimmung vergleicht, die von einem Monat in der Residenz des


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[0190] unter dem zweiten Kaiserreich noch hinzu, so darf nicht Wunder nehmen, wenn die Disciplin in einer sonst so tüchtigen und kriegerischen Armee der Art untergraben wurde, daß sie zum großen Theil in völlige Anarchie und Meuterei überging und man in jüngster Zeit Dinge erlebte, die uns noch vor wenigen Monaten unglaublich schienen. Durch diese tief einfressenden und zersetzenden Schäden nun war möglich, daß ein solches Heer so rasch über¬ wunden und fast gänzlich vernichtet wurde, in einer Weise, wie die Welt¬ geschichte kein zweites Beispiel aufzuweisen hat. Wir wollen der hohen Tapferkeit, Hingebung und Intelligenz unseres herrlichen Heeres und seiner tüchtigen Führer durchaus nicht zu nahe treten, wenn wir hier sagen, daß neben diesen hohen Verdiensten doch auch die Schäden des Gegners nicht wenig zu diesen raschen und erfolgreichen Siegen mit beigetragen haben. Daß dieser unterliegen würde, daran zweifelte wohl kein Deutscher, der die diesseitigen und französischen Zustände, namentlich in den Heeren, einiger¬ maßen kannte; daß aber Alles fo kommen würde, ließ sich wohl Nie¬ mand träumen. Die jetzigen französischen Zustände haben vieles Aehnliche mit denen des römischen Reiches zur Zeit seines Verfalles. Auch die Prätorianerwirthschaft hat sich in Frankreich bereits angekündigt und das Heer ist auf dem besten Wege, in die Fußtapfen des weiland römischen zu treten. Schon bei Na¬ poleon I. entschied das Heer nach seiner Rückkehr von Elba über die Herr¬ schaft in Frankreich, den Neffen schob es eben bei Seite, oder ließ ihn fallen, und wer es weiter versteht, sich seine Gunst zu erwerben, wird mit ihm auch in Frankreich die Gewalt in der Hand haben. Nach dem Gange der Welt¬ geschichte folgt fast stets auf die Anarchie die Säbelherrschaft, und mit dieser gewöhnlich eine Dictatur. Allerdings treffen diese bittern Vorwürfe und Schäden nicht ganz Frank¬ reich, nicht dessen ganzes Heer. Denn auch in diesem finden wir, wie überall, gute Elemente, die es mit dem Vaterlande und der Nation wohl meinen; aber diese wurden von dem so üppig rankenden Unkraut überwuchert, wenn auch nicht erstickt. Wer Berlins Haltung in den letzten Tagen bis heut zum 21. Januar, mit der Stimmung vergleicht, die von einem Monat in der Residenz des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/190>, abgerufen am 26.06.2024.