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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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und Staatsmann kann jetzt länger als vierzehn Tage an der Spitze einer
Truppe oder eines Portefeuilles stehen, ohne in den Augen des gesammten
ernsten Europa zur lächerlichen Figur herabzusinken. Dieser Fluch der Lächer¬
lichkeit heftet sich mit Naturnothwendigkeit an alle Schritte, Befehle und
Kundgebungen französischer Führer, welche sich Gambetta, den französischen
Kriegsherrn, zum Muster nehmen. Handelt, redet und lügt man wie Er will,
so gilt man vor Europa für eine lustige Person. Faßt man die Sache
dagegen so ernst, wie sie liegt, mit dem gewissenhaften Zaudern der ungeheu¬
ren Verantwortlichkeit, die der geringste Führer im Felde übernimmt, so ist
man sicher, vor ein Kriegsgericht zu Bordeaux gestellt zu werden. Daher haben
sich alle ernsten, klugen Generale der Franzosen längst vom Heerbefehl zurück¬
gezogen und den humoristischen Talenten die Nachfolge überlassen. In Frank¬
reich selbst bricht sich diese Erkenntniß breite Bahn. Trotz der unerhörtesten
Maßregelung der Presse durch Gambetta, vergeht kein Tag,- wo nicht fast die
gesammte französische Presse den Dictator in allen Tonarten angreift; bald
wird ihm die furchtbare Blutschuld vorgehalten, bald wieder wird er unter
dem Bilde eines gallischen Proconsuls vor Christi Geburt in seiner ganzen
Würdelosigkeit und vis comica unbarmherzig aber wahrheitsgetreu geschildert.

Wenn jemals zuvor, so ist die unabhängige Presse Frankreichs jetzt, in
ihrer Kritik der Worte und Thaten Gambetta's, der getreue Ausdruck der
öffentlichen Meinung Frankreichs. Wir mögen nicht gering denken von dem
Muthe der französischen Presse in diesen schweren Tagen. Der Dienst der
Wahrheit und Ueberzeugungstreue ist überall in Frankreich, wohin der Arm
der sogenannten Nationalvertheidigung reicht, heute unendlich viel schwieriger
und gefahrvoller, als jemals unter dem Kaiserreich. Denn das ganze Pre߬
gesetz dieser biedern Republikaner besteht in den zwei Worten: Unterdrückung
und Kriegsgericht. Ueberall ist die erste Sorge dieser Freiheitsapostel ge¬
wesen, die ordentlichen Gerichte und Gesetze aufzuheben, und an deren Stelle
ihre Willkür zu setzen. "Da gibt's nur ein Vergehen und Verbrechen: der
Ordre fürwitzig widersprechen" -- wie in Wallenstein's Lager. Der nachhal¬
tige Widerstand der Generalräthe gegen die Blut- und Geldaussaugung der
Gambetta'schen Präsectenwirthschaft beweist deutlich, daß die Unzufriedenheit
mit dem Gouvernement vom 4. September nicht blos in den Häuptern eini¬
ger Redacteure spukt, sondern von jenem untersten Glied staatlicher Ordnung
ausgeht, das wir auch in Frankreich noch halbwegs gesund halten, von dem
Selbsterhaltungstrieb der Gemeinden. Das sind Kundgebungen selbständiger
und friedenersehnender Gesinnung, wie sie lauter und kräftiger in dem un¬
glücklichen Lande nicht hervortreten und erwartet werden können, so lange
jede Widersetzlichkeit gegen den Krieg g, outrauvo mit jähem und schimpflichein
Tode bedroht ist. Sie erheben sich überall: in Paris, in Bordeaux, in Lille,


und Staatsmann kann jetzt länger als vierzehn Tage an der Spitze einer
Truppe oder eines Portefeuilles stehen, ohne in den Augen des gesammten
ernsten Europa zur lächerlichen Figur herabzusinken. Dieser Fluch der Lächer¬
lichkeit heftet sich mit Naturnothwendigkeit an alle Schritte, Befehle und
Kundgebungen französischer Führer, welche sich Gambetta, den französischen
Kriegsherrn, zum Muster nehmen. Handelt, redet und lügt man wie Er will,
so gilt man vor Europa für eine lustige Person. Faßt man die Sache
dagegen so ernst, wie sie liegt, mit dem gewissenhaften Zaudern der ungeheu¬
ren Verantwortlichkeit, die der geringste Führer im Felde übernimmt, so ist
man sicher, vor ein Kriegsgericht zu Bordeaux gestellt zu werden. Daher haben
sich alle ernsten, klugen Generale der Franzosen längst vom Heerbefehl zurück¬
gezogen und den humoristischen Talenten die Nachfolge überlassen. In Frank¬
reich selbst bricht sich diese Erkenntniß breite Bahn. Trotz der unerhörtesten
Maßregelung der Presse durch Gambetta, vergeht kein Tag,- wo nicht fast die
gesammte französische Presse den Dictator in allen Tonarten angreift; bald
wird ihm die furchtbare Blutschuld vorgehalten, bald wieder wird er unter
dem Bilde eines gallischen Proconsuls vor Christi Geburt in seiner ganzen
Würdelosigkeit und vis comica unbarmherzig aber wahrheitsgetreu geschildert.

Wenn jemals zuvor, so ist die unabhängige Presse Frankreichs jetzt, in
ihrer Kritik der Worte und Thaten Gambetta's, der getreue Ausdruck der
öffentlichen Meinung Frankreichs. Wir mögen nicht gering denken von dem
Muthe der französischen Presse in diesen schweren Tagen. Der Dienst der
Wahrheit und Ueberzeugungstreue ist überall in Frankreich, wohin der Arm
der sogenannten Nationalvertheidigung reicht, heute unendlich viel schwieriger
und gefahrvoller, als jemals unter dem Kaiserreich. Denn das ganze Pre߬
gesetz dieser biedern Republikaner besteht in den zwei Worten: Unterdrückung
und Kriegsgericht. Ueberall ist die erste Sorge dieser Freiheitsapostel ge¬
wesen, die ordentlichen Gerichte und Gesetze aufzuheben, und an deren Stelle
ihre Willkür zu setzen. „Da gibt's nur ein Vergehen und Verbrechen: der
Ordre fürwitzig widersprechen" — wie in Wallenstein's Lager. Der nachhal¬
tige Widerstand der Generalräthe gegen die Blut- und Geldaussaugung der
Gambetta'schen Präsectenwirthschaft beweist deutlich, daß die Unzufriedenheit
mit dem Gouvernement vom 4. September nicht blos in den Häuptern eini¬
ger Redacteure spukt, sondern von jenem untersten Glied staatlicher Ordnung
ausgeht, das wir auch in Frankreich noch halbwegs gesund halten, von dem
Selbsterhaltungstrieb der Gemeinden. Das sind Kundgebungen selbständiger
und friedenersehnender Gesinnung, wie sie lauter und kräftiger in dem un¬
glücklichen Lande nicht hervortreten und erwartet werden können, so lange
jede Widersetzlichkeit gegen den Krieg g, outrauvo mit jähem und schimpflichein
Tode bedroht ist. Sie erheben sich überall: in Paris, in Bordeaux, in Lille,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/160>, abgerufen am 26.06.2024.