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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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wen zu denken und Grenville hat sich noch nicht zu der Einsicht ermannen
können, daß der beste freundnachbarliche Dienst, den England jetzt Frankreich
erweisen könnte, wäre, ihm die falschen Illusionen über seine Widerstands¬
kraft zu benehmen. Auch muß man, um billig zu sein, in Betracht ziehen,
daß sich Frankreich in den letzten zwanzig Jahren des Kaiserreichs stets als
guter. Verbündeter Englands erwiesen hat. Wir erfahren jetzt bei dem deut¬
schen Süden, welch ein mächtiges Bindemittel die Waffenbrüderschaft ist;
ähnliche Bande hat auch der Krimmkrieg zwischen dem englischen und fran¬
zösischen Heere und Volke gewoben. Bei dem indischen Aufstande von 1857
stellte Napoleon England seine Transportschiffe zur Verfügung; durch den
Handelsvertrag eröffnete er nicht blos den französischen Markt der englischen
Industrie, sondern brachte ihr auch mittelbar große Vortheile, indem er durch
seine freihändlerische Politik den Anstoß zu einer allgemeinen Revision der
continentalen Tarife gab. Derartige Dinge werden nicht über Nacht ver¬
gessen, um so weniger, als der englische Geist langsam arbeitet, namentlich
langsam sich in neue auswärtige Situationen einzuleben weiß. Aber nach
den angeführten Symptomen des Umschwungs wird man doch darauf rech¬
nen dürfen, daß die Schwerkraft der Thatsachen sich allmälig unwiderstehlich
geltend machen wird. Die englischen Staatsmänner werden sich sagen müssen,
daß Frankreich aus diesem Kriege dermaßen geschwächt hervorgehen muß, daß
es für lange Zeit aus jede Action nach Außen zu verzichten genöthigt ist.
Deutschlands Allianz dagegen wird im Verhältniß seiner gewachsenen Macht
steigen müssen; nicht nur bietet der künftige deutsche Bundesstaat die stärkste
Garantie des Weltfriedens, sondern auch den einzigen Stützpunkt gemein¬
samer Abwehr gegen die Gefahr des Panslavismus. Und hier trifft das
orientalisch-asiatische Interesse Englands vollkommen zusammen mit dem
Deutschlands seine Ostgrenze zu sichern. So lange die Abrechnung mit
Frankreich nicht erfolgt war, blieb für Preußen ein gutes Einvernehmen mit
Rußland Nothwendigkeit, denn die gefahrvollste Combination war für uns
eine französisch-russische Allianz. Auch hat es bekanntlich Napoleon nicht an
Versuchen dazu fehlen lassen und hat im Spätherbst 1866 sowie in der can-
diotischen Frage das Möglichste aufgeboten, um Rußland durch Concessionen
zu gewinnen. Aber Graf Bismarck's Scharfblick hatte sofort nach den Ni-
colsburger Präliminarien die Gefahr dieser Conjunctur erkannt und hatte
durch rasches Handeln das Prävenire gespielt. Die moralische Verbindlichkeit,
welche Rußland gegen Preußen aus der Zeit des Krimmkrieges und des
polnischen Aufstandes hatte, die verwandtschaftlichen Bande der regierenden
Familien boten hiefür Handhaben, welche vom Bundeskanzler auf das geschick¬
teste benutzt wurden. Gleichwohl hat sich derselbe wohl gehütet, gegen Nu߬
land irgend welche Verpflichtung hinsichtlich der orientalischen Verhältnisse


Grenzboten IV. 1870. 8

wen zu denken und Grenville hat sich noch nicht zu der Einsicht ermannen
können, daß der beste freundnachbarliche Dienst, den England jetzt Frankreich
erweisen könnte, wäre, ihm die falschen Illusionen über seine Widerstands¬
kraft zu benehmen. Auch muß man, um billig zu sein, in Betracht ziehen,
daß sich Frankreich in den letzten zwanzig Jahren des Kaiserreichs stets als
guter. Verbündeter Englands erwiesen hat. Wir erfahren jetzt bei dem deut¬
schen Süden, welch ein mächtiges Bindemittel die Waffenbrüderschaft ist;
ähnliche Bande hat auch der Krimmkrieg zwischen dem englischen und fran¬
zösischen Heere und Volke gewoben. Bei dem indischen Aufstande von 1857
stellte Napoleon England seine Transportschiffe zur Verfügung; durch den
Handelsvertrag eröffnete er nicht blos den französischen Markt der englischen
Industrie, sondern brachte ihr auch mittelbar große Vortheile, indem er durch
seine freihändlerische Politik den Anstoß zu einer allgemeinen Revision der
continentalen Tarife gab. Derartige Dinge werden nicht über Nacht ver¬
gessen, um so weniger, als der englische Geist langsam arbeitet, namentlich
langsam sich in neue auswärtige Situationen einzuleben weiß. Aber nach
den angeführten Symptomen des Umschwungs wird man doch darauf rech¬
nen dürfen, daß die Schwerkraft der Thatsachen sich allmälig unwiderstehlich
geltend machen wird. Die englischen Staatsmänner werden sich sagen müssen,
daß Frankreich aus diesem Kriege dermaßen geschwächt hervorgehen muß, daß
es für lange Zeit aus jede Action nach Außen zu verzichten genöthigt ist.
Deutschlands Allianz dagegen wird im Verhältniß seiner gewachsenen Macht
steigen müssen; nicht nur bietet der künftige deutsche Bundesstaat die stärkste
Garantie des Weltfriedens, sondern auch den einzigen Stützpunkt gemein¬
samer Abwehr gegen die Gefahr des Panslavismus. Und hier trifft das
orientalisch-asiatische Interesse Englands vollkommen zusammen mit dem
Deutschlands seine Ostgrenze zu sichern. So lange die Abrechnung mit
Frankreich nicht erfolgt war, blieb für Preußen ein gutes Einvernehmen mit
Rußland Nothwendigkeit, denn die gefahrvollste Combination war für uns
eine französisch-russische Allianz. Auch hat es bekanntlich Napoleon nicht an
Versuchen dazu fehlen lassen und hat im Spätherbst 1866 sowie in der can-
diotischen Frage das Möglichste aufgeboten, um Rußland durch Concessionen
zu gewinnen. Aber Graf Bismarck's Scharfblick hatte sofort nach den Ni-
colsburger Präliminarien die Gefahr dieser Conjunctur erkannt und hatte
durch rasches Handeln das Prävenire gespielt. Die moralische Verbindlichkeit,
welche Rußland gegen Preußen aus der Zeit des Krimmkrieges und des
polnischen Aufstandes hatte, die verwandtschaftlichen Bande der regierenden
Familien boten hiefür Handhaben, welche vom Bundeskanzler auf das geschick¬
teste benutzt wurden. Gleichwohl hat sich derselbe wohl gehütet, gegen Nu߬
land irgend welche Verpflichtung hinsichtlich der orientalischen Verhältnisse


Grenzboten IV. 1870. 8
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/65>, abgerufen am 22.12.2024.