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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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von der Welt, in welcher sie lebten und wirkten, gehoben und getragen, sondern un¬
aufhörlich von derselben gehemmt und durchkreuzt wurde. Die naive Sicherheit des
Stilgefühls wurde beirrt. Es war schwer und fast unvermeidlich, daß, was zuerst
tief innerliche, lebendige Nachbildung gewesen, allmählich (d. h. noch immer in der
sog. klassischen Periode, wenige Jahre nach Beendigung der "Iphigenia") in äußer¬
liche Nachahmung und in allerlei blos philologische Experimente und Spielerei ent¬
artete. Goethe dichtete die kalte verkünstelte "Achilleis" und verfiel in der "Natür¬
lichen Tochter", in "Pandora" und in den dramatischen Festspielen aus dieser Zeit
(d. h. der klassischen) in eine wirre Symbolik und Allegorik, von welcher sich seine
dramatische Gestaltungskraft nie wieder erholt hat. (Zeuge davon der zweite Theil
des "Faust", in welchem Goethe selbst auf formelle Weise seine Ansichten von der
verjüngenden Kraft der antiken Kunstformen, von dem Einflüsse der klassischen Kunst¬
anschauungen in Italien, und so vieler anderen derartigen Axiome durch die That
widerlegt hat). Ist es nicht, als wolle Hettner selbst sagen: die ästhetische Aus¬
bildung des Menschen gewährt doch nicht das reine freie Menschenthum, sondern
höchstens eine Poesie der Poesie, eine Kunst der Kunst, die entweder zum todten
Formalismus wie in der "Achilleis" und der "Natürlichen Tochter" oder zum
ironischen, d. h. im Grunde nihilistischen destillirten Kunstgenuß der Romantiker
führen muß; auch die antike Kunst gewährt keine untrügliche Panacee, wenn man
sie im Geringsten formell anzuwenden sucht, statt auf ihre Principien zurückzugehen
und zu sehen, ob diese mit den Grundanschauungen unserer Zeit sich vereinigen lassen.

Mit anderen Worten, der Goethe, der in der antiken Kunst der Poesie den
Maßstab der höchsten Schönheit sah, der seine nordische Barbarennatur in Italien,
wo "zur Kunstbeschauung des Antiken seines Geistes Auge flott wurde", abzustreifen
und in ästhetischer Wiedergeburt zu erneuen suchte, der Goethe, der das einzige Heil in
der antiken Form erblickt, so sehr, daß er den volksthümlichen Stoff von "Hermann
und Dorothea" in Homerische Form zwängte, und die für unser Volksbewußtsein
ganz heterogenen und gleichgültigen Stoffe, der "Achilleis" und "Natürlichen Toch¬
ter", einzig mir Hilfe dieser Form mit Empfindung zu erfüllen und poetisch zu ge¬
stalten glaubte -- eben dieser Goethe griff in seinen späteren Lebensjahren wieder
auf seine voritalienische Zeit zurück und schrieb den zweiten Theil des formlosen
"Faust", ja er wandte sich sogar vom klassischen Griechenland und Italien zu dem
barbarischen mohamedanischen Orient, dessen lyrische Formen mit gleichem Eiser
cultivirend, wie zwei Jahrzehnte zuvor die der lateinischen Elegiker. Entweder --
und dies geht unwiderleglich aus den unparteiisch von Hettner mitgetheilten Daten
hervor -- ist die Apotheose der Antike und der Halbantiken Renaissance, und mit
ihr der Cultus des "klassischen" Goethe nicht aufrecht zu halten, oder Goethe ist
sich muthwillig untreu geworden; entweder ist ihm bei feinen klassischen Bestrebun¬
gen doch das Unzureichende derselben für unsere Empfindungs- und Anschauungs¬
weise klar geworden, er hat es erkannt, daß die antike Form nicht identisch sei mit
der höchsten Schönheit, d. h. der beseelten, oder er ist unfähig gewesen, sein antikes
Ideal zu verwirklichen.

Eine gleiche Bewandtniß hat es mit dem nach Hettner in Goethe verkörperten
Ideale reinen und freien Menschenthums. Aus der ganzen Geschichtserzählung
Hettner's geht hervor, daß Goethen alle durch bedeutende sittliche Willenskraft aus¬
gezeichneten Charaktere, wie namentlich Luther, Gustav Adolf, Washington, Friedrich
ver Große, die Helden der Befreiungskriege ze. wenn nicht geradezu antipathisch, so
doch gewiß gleichgültig waren; daß bei andern Charakterhelden der Art nur das
pathologische Interesse, das ihnen inwohnt, wie z. B. bei Cäsar, Mohamed, Napo¬
leon, ihn zu sesseln vermochte, oft aber auch, wie bei Napoleon, zu dem verkehrtesten
Urtheile verleitete: mit andern Worten, Goethe hatte wenig Sinn für rein ethische


von der Welt, in welcher sie lebten und wirkten, gehoben und getragen, sondern un¬
aufhörlich von derselben gehemmt und durchkreuzt wurde. Die naive Sicherheit des
Stilgefühls wurde beirrt. Es war schwer und fast unvermeidlich, daß, was zuerst
tief innerliche, lebendige Nachbildung gewesen, allmählich (d. h. noch immer in der
sog. klassischen Periode, wenige Jahre nach Beendigung der „Iphigenia") in äußer¬
liche Nachahmung und in allerlei blos philologische Experimente und Spielerei ent¬
artete. Goethe dichtete die kalte verkünstelte „Achilleis" und verfiel in der „Natür¬
lichen Tochter", in „Pandora" und in den dramatischen Festspielen aus dieser Zeit
(d. h. der klassischen) in eine wirre Symbolik und Allegorik, von welcher sich seine
dramatische Gestaltungskraft nie wieder erholt hat. (Zeuge davon der zweite Theil
des „Faust", in welchem Goethe selbst auf formelle Weise seine Ansichten von der
verjüngenden Kraft der antiken Kunstformen, von dem Einflüsse der klassischen Kunst¬
anschauungen in Italien, und so vieler anderen derartigen Axiome durch die That
widerlegt hat). Ist es nicht, als wolle Hettner selbst sagen: die ästhetische Aus¬
bildung des Menschen gewährt doch nicht das reine freie Menschenthum, sondern
höchstens eine Poesie der Poesie, eine Kunst der Kunst, die entweder zum todten
Formalismus wie in der „Achilleis" und der „Natürlichen Tochter" oder zum
ironischen, d. h. im Grunde nihilistischen destillirten Kunstgenuß der Romantiker
führen muß; auch die antike Kunst gewährt keine untrügliche Panacee, wenn man
sie im Geringsten formell anzuwenden sucht, statt auf ihre Principien zurückzugehen
und zu sehen, ob diese mit den Grundanschauungen unserer Zeit sich vereinigen lassen.

Mit anderen Worten, der Goethe, der in der antiken Kunst der Poesie den
Maßstab der höchsten Schönheit sah, der seine nordische Barbarennatur in Italien,
wo „zur Kunstbeschauung des Antiken seines Geistes Auge flott wurde", abzustreifen
und in ästhetischer Wiedergeburt zu erneuen suchte, der Goethe, der das einzige Heil in
der antiken Form erblickt, so sehr, daß er den volksthümlichen Stoff von „Hermann
und Dorothea" in Homerische Form zwängte, und die für unser Volksbewußtsein
ganz heterogenen und gleichgültigen Stoffe, der „Achilleis" und „Natürlichen Toch¬
ter", einzig mir Hilfe dieser Form mit Empfindung zu erfüllen und poetisch zu ge¬
stalten glaubte — eben dieser Goethe griff in seinen späteren Lebensjahren wieder
auf seine voritalienische Zeit zurück und schrieb den zweiten Theil des formlosen
„Faust", ja er wandte sich sogar vom klassischen Griechenland und Italien zu dem
barbarischen mohamedanischen Orient, dessen lyrische Formen mit gleichem Eiser
cultivirend, wie zwei Jahrzehnte zuvor die der lateinischen Elegiker. Entweder —
und dies geht unwiderleglich aus den unparteiisch von Hettner mitgetheilten Daten
hervor — ist die Apotheose der Antike und der Halbantiken Renaissance, und mit
ihr der Cultus des „klassischen" Goethe nicht aufrecht zu halten, oder Goethe ist
sich muthwillig untreu geworden; entweder ist ihm bei feinen klassischen Bestrebun¬
gen doch das Unzureichende derselben für unsere Empfindungs- und Anschauungs¬
weise klar geworden, er hat es erkannt, daß die antike Form nicht identisch sei mit
der höchsten Schönheit, d. h. der beseelten, oder er ist unfähig gewesen, sein antikes
Ideal zu verwirklichen.

Eine gleiche Bewandtniß hat es mit dem nach Hettner in Goethe verkörperten
Ideale reinen und freien Menschenthums. Aus der ganzen Geschichtserzählung
Hettner's geht hervor, daß Goethen alle durch bedeutende sittliche Willenskraft aus¬
gezeichneten Charaktere, wie namentlich Luther, Gustav Adolf, Washington, Friedrich
ver Große, die Helden der Befreiungskriege ze. wenn nicht geradezu antipathisch, so
doch gewiß gleichgültig waren; daß bei andern Charakterhelden der Art nur das
pathologische Interesse, das ihnen inwohnt, wie z. B. bei Cäsar, Mohamed, Napo¬
leon, ihn zu sesseln vermochte, oft aber auch, wie bei Napoleon, zu dem verkehrtesten
Urtheile verleitete: mit andern Worten, Goethe hatte wenig Sinn für rein ethische


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[0520] von der Welt, in welcher sie lebten und wirkten, gehoben und getragen, sondern un¬ aufhörlich von derselben gehemmt und durchkreuzt wurde. Die naive Sicherheit des Stilgefühls wurde beirrt. Es war schwer und fast unvermeidlich, daß, was zuerst tief innerliche, lebendige Nachbildung gewesen, allmählich (d. h. noch immer in der sog. klassischen Periode, wenige Jahre nach Beendigung der „Iphigenia") in äußer¬ liche Nachahmung und in allerlei blos philologische Experimente und Spielerei ent¬ artete. Goethe dichtete die kalte verkünstelte „Achilleis" und verfiel in der „Natür¬ lichen Tochter", in „Pandora" und in den dramatischen Festspielen aus dieser Zeit (d. h. der klassischen) in eine wirre Symbolik und Allegorik, von welcher sich seine dramatische Gestaltungskraft nie wieder erholt hat. (Zeuge davon der zweite Theil des „Faust", in welchem Goethe selbst auf formelle Weise seine Ansichten von der verjüngenden Kraft der antiken Kunstformen, von dem Einflüsse der klassischen Kunst¬ anschauungen in Italien, und so vieler anderen derartigen Axiome durch die That widerlegt hat). Ist es nicht, als wolle Hettner selbst sagen: die ästhetische Aus¬ bildung des Menschen gewährt doch nicht das reine freie Menschenthum, sondern höchstens eine Poesie der Poesie, eine Kunst der Kunst, die entweder zum todten Formalismus wie in der „Achilleis" und der „Natürlichen Tochter" oder zum ironischen, d. h. im Grunde nihilistischen destillirten Kunstgenuß der Romantiker führen muß; auch die antike Kunst gewährt keine untrügliche Panacee, wenn man sie im Geringsten formell anzuwenden sucht, statt auf ihre Principien zurückzugehen und zu sehen, ob diese mit den Grundanschauungen unserer Zeit sich vereinigen lassen. Mit anderen Worten, der Goethe, der in der antiken Kunst der Poesie den Maßstab der höchsten Schönheit sah, der seine nordische Barbarennatur in Italien, wo „zur Kunstbeschauung des Antiken seines Geistes Auge flott wurde", abzustreifen und in ästhetischer Wiedergeburt zu erneuen suchte, der Goethe, der das einzige Heil in der antiken Form erblickt, so sehr, daß er den volksthümlichen Stoff von „Hermann und Dorothea" in Homerische Form zwängte, und die für unser Volksbewußtsein ganz heterogenen und gleichgültigen Stoffe, der „Achilleis" und „Natürlichen Toch¬ ter", einzig mir Hilfe dieser Form mit Empfindung zu erfüllen und poetisch zu ge¬ stalten glaubte — eben dieser Goethe griff in seinen späteren Lebensjahren wieder auf seine voritalienische Zeit zurück und schrieb den zweiten Theil des formlosen „Faust", ja er wandte sich sogar vom klassischen Griechenland und Italien zu dem barbarischen mohamedanischen Orient, dessen lyrische Formen mit gleichem Eiser cultivirend, wie zwei Jahrzehnte zuvor die der lateinischen Elegiker. Entweder — und dies geht unwiderleglich aus den unparteiisch von Hettner mitgetheilten Daten hervor — ist die Apotheose der Antike und der Halbantiken Renaissance, und mit ihr der Cultus des „klassischen" Goethe nicht aufrecht zu halten, oder Goethe ist sich muthwillig untreu geworden; entweder ist ihm bei feinen klassischen Bestrebun¬ gen doch das Unzureichende derselben für unsere Empfindungs- und Anschauungs¬ weise klar geworden, er hat es erkannt, daß die antike Form nicht identisch sei mit der höchsten Schönheit, d. h. der beseelten, oder er ist unfähig gewesen, sein antikes Ideal zu verwirklichen. Eine gleiche Bewandtniß hat es mit dem nach Hettner in Goethe verkörperten Ideale reinen und freien Menschenthums. Aus der ganzen Geschichtserzählung Hettner's geht hervor, daß Goethen alle durch bedeutende sittliche Willenskraft aus¬ gezeichneten Charaktere, wie namentlich Luther, Gustav Adolf, Washington, Friedrich ver Große, die Helden der Befreiungskriege ze. wenn nicht geradezu antipathisch, so doch gewiß gleichgültig waren; daß bei andern Charakterhelden der Art nur das pathologische Interesse, das ihnen inwohnt, wie z. B. bei Cäsar, Mohamed, Napo¬ leon, ihn zu sesseln vermochte, oft aber auch, wie bei Napoleon, zu dem verkehrtesten Urtheile verleitete: mit andern Worten, Goethe hatte wenig Sinn für rein ethische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/520>, abgerufen am 22.12.2024.