Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.so Hettner, der, wo es die Gelegenheit mit sich bringt, nicht den geringsten Anstand Hettner hat sich in seiner Begeisterung für den großen Dichter eine eigene so Hettner, der, wo es die Gelegenheit mit sich bringt, nicht den geringsten Anstand Hettner hat sich in seiner Begeisterung für den großen Dichter eine eigene <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125224"/> <p xml:id="ID_1606" prev="#ID_1605"> so Hettner, der, wo es die Gelegenheit mit sich bringt, nicht den geringsten Anstand<lb/> nimmt, alle Unzulänglichkeiten, Einseitigkeiten, Oberflächlichkeiten und Geschmacklosig¬<lb/> keiten der Aufklärungsweisheit wahrheitsgetreu zu betonen, und es somit vorzieht<lb/> lieber seiner Theorie, als der geschichtlichen Wahrheit zu nahe zu treten. — Aehn-<lb/> licherweise wird Rousseau und sein Naturevangelium als die eigentliche Wurzel nicht<lb/> nur der deutschen Sturm- und Drangperiode, sondern speciell auch der ganzen lite¬<lb/> rarischen Thätigkeit Herder's dargestellt, und aus des letzteren „Rousseaubegeisterung<lb/> alle jene gewaltigen Ideen zur Umgestaltung und Verjüngung der Wissenschaft und<lb/> Dichtung, welche seine eigensten und bleibendsten Thaten geworden sind" hergeleitet.<lb/> Und doch steht Hettner mit treuer Wahrheitsliebe nicht an, als „Herder's eigentliche<lb/> Urthat, als d!e treibende Kraft und Lebensseele seines gesammten Empfindens und<lb/> Denkens seine geniale Einsicht in Wesen und Ursprung der Volkspoesie" zu bezeich¬<lb/> nen, mit andern Worten sein eminent historisches Talent des Eingehens in die<lb/> concreten Zustände und Eigenthümlichkeiten historisch gegebener Zeiten und Völker,<lb/> eine Gabe, die himmelweit entfernt ist von dem rein rhetorischen, durch und<lb/> durch antihistorischen Genie Rousseau's, dessen Begeisterung für Natur und Natur¬<lb/> zustände nur auf moralischen Velleitäten und den Fictionen einer willkürlichen, in<lb/> leeren Idealen sich bewegenden Phantasie beruht, die sich in den Dienst der Zeit¬<lb/> stimmungen begeben, und nur durch letztern Umstand einen momentanen so an- und<lb/> aufregenden Einfluß gewonnen hat, daß sie wie später bei der politischen Umwäl¬<lb/> zung in Frankreich, so schon früher in Deutschland, das die Geister der Sturm¬<lb/> und Drangperiode hauptsächlich mit in Bewegung setzen half, von realem, d. h. po¬<lb/> sitiv befruchtendem, schöpferischen Einfluß weder auf diese, noch weniger aber auf<lb/> Herder geworden ist; denn Herder's Humanitätsevangelinm ist innerlich durch und<lb/> durch verschieden von Rousseau's Naturanbetung, und nirgends tritt dieser Unterschied<lb/> augenscheinlicher hervor, als in der treuen und lebensvollen Schilderung, die Hettner<lb/> von der geistigen Wirksamkeit Herder's entwirft. Am meisten aber macht sich diese<lb/> Treue der aller Einseitigkeit abholden Empfindungsweise Hettner's, die niemals aus<lb/> doctrinairem Interesse, sich selbst verleugnend, auf eine Meinung schwört, in den<lb/> Goethe gewidmeten Capiteln geltend.<lb/> '</p><lb/> <p xml:id="ID_1607" next="#ID_1608"> Hettner hat sich in seiner Begeisterung für den großen Dichter eine eigene<lb/> ideale Theorie über denselben gebildet. „Der Drang, den vollen und ganzen Men-<lb/> schen aus sich herauszubilden, begrenzte und vertiefte sich bei Goethe zu einer um»<lb/> fassenden Vielseitigkeit und Tiefe der Bildung, wie kein anderer Mensch sie jemals<lb/> erreicht hat, und zugleich zu einer sittlichen Maßbeschränkung und innern Harmonie zu<lb/> einer Sophrosyne undKalokaqathieim schönen antiken Sinne des Wortes, die ihn zu einem<lb/> der Größten und Weiseste« aller Menschen, zu einem Urbild und Vorbild schönsten<lb/> und reinsten Menschenthums macht. Die Fortbildung und Versöhnung des Werther<lb/> ist Tasso und Wilhelm Meister. Der willenskräftige und klar bewußte Künstler<lb/> seines Lebens wird auf der heitern und klaren Höhe des sittlichen Ideals der<lb/> Dichter der modernen Bildungskämpfe und der Dichter der Herzensirrungen."<lb/> „Goethe und Schiller sind nicht blos die dichterischen Befreier der Deutschen, son¬<lb/> dern weit mehr noch die sittlichen. Die Ueberwindung der Sturm- und Drang¬<lb/> periode war die Zügelung der entfesselten dunkeln Gemüthsmächte zu freier Selbst¬<lb/> beherrschung, der Uebergang von der Sophistik zur Sophrosyne, von der Freigeisterei<lb/> der Leidenschaft zur versöhnten und in sich befriedigten Besonnenheit. Der Begriff<lb/> des reinen und freien Menschenthums war wiedererobert. Es war die Eroberung<lb/> des hehren Ideals vollendeter Bildungsharmonie, oder des Ideals vollendeter und<lb/> reiner Humanität. Nach jahrhundertelanger willkürlicher Selbstentfremdung hatte<lb/> sich der Mensch endlich selbst wiedergefunden." „Es ist eine der wunderbarsten<lb/> Thatsachen, in welcher großartig freien und lebendigen Weise diese beabsichtigte kunst-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0518]
so Hettner, der, wo es die Gelegenheit mit sich bringt, nicht den geringsten Anstand
nimmt, alle Unzulänglichkeiten, Einseitigkeiten, Oberflächlichkeiten und Geschmacklosig¬
keiten der Aufklärungsweisheit wahrheitsgetreu zu betonen, und es somit vorzieht
lieber seiner Theorie, als der geschichtlichen Wahrheit zu nahe zu treten. — Aehn-
licherweise wird Rousseau und sein Naturevangelium als die eigentliche Wurzel nicht
nur der deutschen Sturm- und Drangperiode, sondern speciell auch der ganzen lite¬
rarischen Thätigkeit Herder's dargestellt, und aus des letzteren „Rousseaubegeisterung
alle jene gewaltigen Ideen zur Umgestaltung und Verjüngung der Wissenschaft und
Dichtung, welche seine eigensten und bleibendsten Thaten geworden sind" hergeleitet.
Und doch steht Hettner mit treuer Wahrheitsliebe nicht an, als „Herder's eigentliche
Urthat, als d!e treibende Kraft und Lebensseele seines gesammten Empfindens und
Denkens seine geniale Einsicht in Wesen und Ursprung der Volkspoesie" zu bezeich¬
nen, mit andern Worten sein eminent historisches Talent des Eingehens in die
concreten Zustände und Eigenthümlichkeiten historisch gegebener Zeiten und Völker,
eine Gabe, die himmelweit entfernt ist von dem rein rhetorischen, durch und
durch antihistorischen Genie Rousseau's, dessen Begeisterung für Natur und Natur¬
zustände nur auf moralischen Velleitäten und den Fictionen einer willkürlichen, in
leeren Idealen sich bewegenden Phantasie beruht, die sich in den Dienst der Zeit¬
stimmungen begeben, und nur durch letztern Umstand einen momentanen so an- und
aufregenden Einfluß gewonnen hat, daß sie wie später bei der politischen Umwäl¬
zung in Frankreich, so schon früher in Deutschland, das die Geister der Sturm¬
und Drangperiode hauptsächlich mit in Bewegung setzen half, von realem, d. h. po¬
sitiv befruchtendem, schöpferischen Einfluß weder auf diese, noch weniger aber auf
Herder geworden ist; denn Herder's Humanitätsevangelinm ist innerlich durch und
durch verschieden von Rousseau's Naturanbetung, und nirgends tritt dieser Unterschied
augenscheinlicher hervor, als in der treuen und lebensvollen Schilderung, die Hettner
von der geistigen Wirksamkeit Herder's entwirft. Am meisten aber macht sich diese
Treue der aller Einseitigkeit abholden Empfindungsweise Hettner's, die niemals aus
doctrinairem Interesse, sich selbst verleugnend, auf eine Meinung schwört, in den
Goethe gewidmeten Capiteln geltend.
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Hettner hat sich in seiner Begeisterung für den großen Dichter eine eigene
ideale Theorie über denselben gebildet. „Der Drang, den vollen und ganzen Men-
schen aus sich herauszubilden, begrenzte und vertiefte sich bei Goethe zu einer um»
fassenden Vielseitigkeit und Tiefe der Bildung, wie kein anderer Mensch sie jemals
erreicht hat, und zugleich zu einer sittlichen Maßbeschränkung und innern Harmonie zu
einer Sophrosyne undKalokaqathieim schönen antiken Sinne des Wortes, die ihn zu einem
der Größten und Weiseste« aller Menschen, zu einem Urbild und Vorbild schönsten
und reinsten Menschenthums macht. Die Fortbildung und Versöhnung des Werther
ist Tasso und Wilhelm Meister. Der willenskräftige und klar bewußte Künstler
seines Lebens wird auf der heitern und klaren Höhe des sittlichen Ideals der
Dichter der modernen Bildungskämpfe und der Dichter der Herzensirrungen."
„Goethe und Schiller sind nicht blos die dichterischen Befreier der Deutschen, son¬
dern weit mehr noch die sittlichen. Die Ueberwindung der Sturm- und Drang¬
periode war die Zügelung der entfesselten dunkeln Gemüthsmächte zu freier Selbst¬
beherrschung, der Uebergang von der Sophistik zur Sophrosyne, von der Freigeisterei
der Leidenschaft zur versöhnten und in sich befriedigten Besonnenheit. Der Begriff
des reinen und freien Menschenthums war wiedererobert. Es war die Eroberung
des hehren Ideals vollendeter Bildungsharmonie, oder des Ideals vollendeter und
reiner Humanität. Nach jahrhundertelanger willkürlicher Selbstentfremdung hatte
sich der Mensch endlich selbst wiedergefunden." „Es ist eine der wunderbarsten
Thatsachen, in welcher großartig freien und lebendigen Weise diese beabsichtigte kunst-
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