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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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derlei Wandlungen des Zeitgeschmacks gewiß deutlicher zur Anschauung, als unsre
zerstreuten Wahrnehmungen unter Freunden in der Lesewelt. Doch möcht' ich eine
eigene Bemerkung damit zusammenhalten, daß auf den Theaterzetteln in unseren
großen Städten von Tag zu Tag häufiger statt einheitlicher den Abend füllender
Stücke drei oder vier dramatische Kleinigkeiten hinter einander aufgereiht erscheinen.
Dies mag nun zwar zum Theil an der Unfähigkeit unserer Bühnendichter liegen,
größere Stoffe zu verarbeiten, während ihnen die Dramatifirung einer bloßen Situa¬
tion, eines guten oder schlechten Einfalls noch eher gelingt, aber das Publicum hat
auch Schuld daran. Es scheint wirklich, als sei bei der Raschheit und Vielseitigkeit
unseres gegenwärtigen Lebens, bei der Fülle der täglichen Eindrücke unseren Gebil¬
deten die ruhige Empfänglichkeit für größere Ganze der Kunst oder Wissenschaft
abhanden gekommen. Das wäre nun freilich vom Uebel, und eben deshalb hab'
ich im Eingange die Sammlungen von Essays mit jenem prächtigen Obst verglichen,
das nach nahrhafterer Mahlzeit erfreulich und dienlich ist, aber im Ueberflusse oder
gar allein niemals genossen werden darf.

Im rechten Maße jedoch und von den rechten Männern gehandhabt, ist diese
Aufsatzschriftstellerei gerade hier in Deutschland des höchsten Lobes werth. Denn
für eine nicht ferne Vergangenheit hatte wirklich der herbe Vorwurf Buckle's seine
Wahrheit, daß bei uns eine gewaltige Kluft bestünde zwischen der strengen Wissen¬
schaft und der Volksbildung. Gerade ausgezeichnete Stimmführer jener, wie Sa-
vigny, hielten es für unwürdig und zudem völlig nutzlos, wissenschaftliche Rede auch
an die Menge der Uneingeweihten zu richten. Mit Bewußtsein und Absicht handelt
glücklicherweise das heutige Geschlecht der Wissenden dieser vornehmen Auffassung
zuwider. Die Söhne Gottes, möchte man scherzend sagen, sind zu den Töchtern
der Menschen herabgestiegen. Denn daß auch der Frauenwelt dadurch eine auf¬
horchende Theilnahme am Geistesleben der Männer gestattet worden, ist nicht die
letzte unter den segensreichen Wirkungen dieses Strebens. Bleibt auch, wie Treitschke
äst bedauernd ausruft, anzuregen, nicht zu erschöpfen, die bescheidene Aufgabe des
Essays, so wird doch die kräftige Anregung den Betroffenen nicht ruhen lassen, bis
er am Ende aus tieferen und systematisch geschlossenen Darstellungen die Sache,
für,, die sein Interesse einmal wachgerufen ist, soweit ihm Kraft und Zeit reicht,
erschöpft hat.

Die "kleinen Schriften" von Johannes Huber gehören zu dem besten, was
unsere junge Aufsatzliteratur aufzuweisen hat, Der Verfasser, in den Kreisen strenger
Wissenschaft bekannt als tüchtiger Arbeiter in der Geschichte mittelalterlich kirchlicher
Philosophie, uns allen werth als einer der freisinnigsten deutschen Katholiken, als
Kämpfer wider die jüngsten Ueberhebungen des Papstthums ("das Papstthum und
der Staat; Wider den Amel-Janus". München 1870, R. Oldenbourg) weiß, daß er
eine nationale Pflicht erfüllt, indem er um eine edle Popularisirung der Forschungs¬
ergebnisse sich bemüht. Einen ähnlichen Fortschritt, wie einst die deutschen Gelehr-


derlei Wandlungen des Zeitgeschmacks gewiß deutlicher zur Anschauung, als unsre
zerstreuten Wahrnehmungen unter Freunden in der Lesewelt. Doch möcht' ich eine
eigene Bemerkung damit zusammenhalten, daß auf den Theaterzetteln in unseren
großen Städten von Tag zu Tag häufiger statt einheitlicher den Abend füllender
Stücke drei oder vier dramatische Kleinigkeiten hinter einander aufgereiht erscheinen.
Dies mag nun zwar zum Theil an der Unfähigkeit unserer Bühnendichter liegen,
größere Stoffe zu verarbeiten, während ihnen die Dramatifirung einer bloßen Situa¬
tion, eines guten oder schlechten Einfalls noch eher gelingt, aber das Publicum hat
auch Schuld daran. Es scheint wirklich, als sei bei der Raschheit und Vielseitigkeit
unseres gegenwärtigen Lebens, bei der Fülle der täglichen Eindrücke unseren Gebil¬
deten die ruhige Empfänglichkeit für größere Ganze der Kunst oder Wissenschaft
abhanden gekommen. Das wäre nun freilich vom Uebel, und eben deshalb hab'
ich im Eingange die Sammlungen von Essays mit jenem prächtigen Obst verglichen,
das nach nahrhafterer Mahlzeit erfreulich und dienlich ist, aber im Ueberflusse oder
gar allein niemals genossen werden darf.

Im rechten Maße jedoch und von den rechten Männern gehandhabt, ist diese
Aufsatzschriftstellerei gerade hier in Deutschland des höchsten Lobes werth. Denn
für eine nicht ferne Vergangenheit hatte wirklich der herbe Vorwurf Buckle's seine
Wahrheit, daß bei uns eine gewaltige Kluft bestünde zwischen der strengen Wissen¬
schaft und der Volksbildung. Gerade ausgezeichnete Stimmführer jener, wie Sa-
vigny, hielten es für unwürdig und zudem völlig nutzlos, wissenschaftliche Rede auch
an die Menge der Uneingeweihten zu richten. Mit Bewußtsein und Absicht handelt
glücklicherweise das heutige Geschlecht der Wissenden dieser vornehmen Auffassung
zuwider. Die Söhne Gottes, möchte man scherzend sagen, sind zu den Töchtern
der Menschen herabgestiegen. Denn daß auch der Frauenwelt dadurch eine auf¬
horchende Theilnahme am Geistesleben der Männer gestattet worden, ist nicht die
letzte unter den segensreichen Wirkungen dieses Strebens. Bleibt auch, wie Treitschke
äst bedauernd ausruft, anzuregen, nicht zu erschöpfen, die bescheidene Aufgabe des
Essays, so wird doch die kräftige Anregung den Betroffenen nicht ruhen lassen, bis
er am Ende aus tieferen und systematisch geschlossenen Darstellungen die Sache,
für,, die sein Interesse einmal wachgerufen ist, soweit ihm Kraft und Zeit reicht,
erschöpft hat.

Die „kleinen Schriften" von Johannes Huber gehören zu dem besten, was
unsere junge Aufsatzliteratur aufzuweisen hat, Der Verfasser, in den Kreisen strenger
Wissenschaft bekannt als tüchtiger Arbeiter in der Geschichte mittelalterlich kirchlicher
Philosophie, uns allen werth als einer der freisinnigsten deutschen Katholiken, als
Kämpfer wider die jüngsten Ueberhebungen des Papstthums („das Papstthum und
der Staat; Wider den Amel-Janus". München 1870, R. Oldenbourg) weiß, daß er
eine nationale Pflicht erfüllt, indem er um eine edle Popularisirung der Forschungs¬
ergebnisse sich bemüht. Einen ähnlichen Fortschritt, wie einst die deutschen Gelehr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/444>, abgerufen am 22.12.2024.