Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.fassung erfüllt sind! Indessen hält sich der praktisch gewordene Sinn nicht Eine Erfahrung, die wir nur erst bei der norddeutschen Bundesverfas¬ Die Leichtigkeit der Verfassungsänderung ist für den norddeutschen Bund Grenzboten IV. 187N. 5
fassung erfüllt sind! Indessen hält sich der praktisch gewordene Sinn nicht Eine Erfahrung, die wir nur erst bei der norddeutschen Bundesverfas¬ Die Leichtigkeit der Verfassungsänderung ist für den norddeutschen Bund Grenzboten IV. 187N. 5
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0041" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124747"/> <p xml:id="ID_99" prev="#ID_98"> fassung erfüllt sind! Indessen hält sich der praktisch gewordene Sinn nicht<lb/> bei der organisatorischen Frage auf, deren Lösung vermöge der von der Zoll¬<lb/> vereinsverfassung gebotenen Handhabe verhältnißmäßig geringere Schwierig¬<lb/> keiten zu haben scheint. Der Inhalt der neuen deutschen Bundesverfassung,<lb/> die Summe dessen, was die neue nationale Staatsgemeinschaft der Gesammt¬<lb/> heit gewähren und was sie berechtigterweise den Sonderselbständigkeiten über¬<lb/> lassen soll, gibt zu vielem Nachdenken Veranlassung, regt manches Für und<lb/> Wider an.</p><lb/> <p xml:id="ID_100"> Eine Erfahrung, die wir nur erst bei der norddeutschen Bundesverfas¬<lb/> sung machten, darf nicht verloren sein. Keine Verfassung, und vereinige sie<lb/> die Vorzüge der preußischen, kann das geltende und gelten sollende Ver¬<lb/> fassungsrecht vollständig wiedergeben, Zweifelsfragen finden sich von selbst,<lb/> die stets wechselnden Staatsverhältnisse und Staatszustände bedingen Aende¬<lb/> rungen und Fortbildung des Staatsrechts. Diese UnVollständigkeit muß bei<lb/> einem Staatswesen zunehmen, das selbst noch unvollständig, das erst in der<lb/> Gestaltung und Entwickelung begriffen, das seinen Bildnern in der endlichen<lb/> Erscheinung gewiß vorschwebt, aber auch ihnen sicherlich nicht in allen Ein¬<lb/> zelnheiten vor Augen steht. War es den Schöpfern der Bundesverfassung<lb/> möglich, die schwierigen heikeln Unterschiede zwischen Bundesstaat und Einzel¬<lb/> staat im voraus ein für allemal, für die oft kleinen und doch nicht kleinen<lb/> Fragen der Fachgesetzgebung zu ziehen? Konnten sie die Centrifugalkraft<lb/> der Einzelstaatsgewalten und die Centripetalkraft der Bundesstaatsgewalt<lb/> ganz zuverlässig vorausberechnen? Konnten sie über die Einsetzung des<lb/> obersten Gerichtshofs, über die Schaffung der Rechtseinheit, über die Durch¬<lb/> bildung des Verwaltungsrechts im Bunde von vorn herein entscheiden?<lb/> Es wäre eine Täuschung, wenn man dies behaupten wollte. Die Berathung<lb/> der Bundesverfassung im Reichstage hat so viele, so wesentliche, so glückliche<lb/> Ergänzungen und Erweiterungen des ursprünglichen Entwurfs gefördert: es<lb/> ist nicht anders möglich, als daß auch die Verwirklichung der Bundesver¬<lb/> fassung viele wesentliche und glückliche Ergänzungen und Erweiterungen für<lb/> die Verfassung brachte und ferner bringt.</p><lb/> <p xml:id="ID_101" next="#ID_102"> Die Leichtigkeit der Verfassungsänderung ist für den norddeutschen Bund<lb/> unentbehrlich, sie wird für den neuen deutschen Bund noch unentbehrlicher sein.<lb/> Die Gefahr, daß Competenzzweifel sich immer und immer erneuern, daß sich<lb/> eine vollkommene Competenzjurisprudenz entwickelt, ist da und nicht zu un¬<lb/> terschätzen. Jede, auch eine bloß scheinbare Unsicherheit des Rechtszustandes,<lb/> schließt Nachtheile in sich. Weit größer als diese Gefahr ist jedoch die andre,<lb/> daß der neue Bundesstaat sich in der Freiheit des Wachsens und Werdens ge¬<lb/> hemmt sieht, daß seine Staatsmänner durch engherzige, wider- oder sogar<lb/> böswillige Bedenken in der Ausgestaltung ihrer Gedanken gehindert werden.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 187N. 5</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
fassung erfüllt sind! Indessen hält sich der praktisch gewordene Sinn nicht
bei der organisatorischen Frage auf, deren Lösung vermöge der von der Zoll¬
vereinsverfassung gebotenen Handhabe verhältnißmäßig geringere Schwierig¬
keiten zu haben scheint. Der Inhalt der neuen deutschen Bundesverfassung,
die Summe dessen, was die neue nationale Staatsgemeinschaft der Gesammt¬
heit gewähren und was sie berechtigterweise den Sonderselbständigkeiten über¬
lassen soll, gibt zu vielem Nachdenken Veranlassung, regt manches Für und
Wider an.
Eine Erfahrung, die wir nur erst bei der norddeutschen Bundesverfas¬
sung machten, darf nicht verloren sein. Keine Verfassung, und vereinige sie
die Vorzüge der preußischen, kann das geltende und gelten sollende Ver¬
fassungsrecht vollständig wiedergeben, Zweifelsfragen finden sich von selbst,
die stets wechselnden Staatsverhältnisse und Staatszustände bedingen Aende¬
rungen und Fortbildung des Staatsrechts. Diese UnVollständigkeit muß bei
einem Staatswesen zunehmen, das selbst noch unvollständig, das erst in der
Gestaltung und Entwickelung begriffen, das seinen Bildnern in der endlichen
Erscheinung gewiß vorschwebt, aber auch ihnen sicherlich nicht in allen Ein¬
zelnheiten vor Augen steht. War es den Schöpfern der Bundesverfassung
möglich, die schwierigen heikeln Unterschiede zwischen Bundesstaat und Einzel¬
staat im voraus ein für allemal, für die oft kleinen und doch nicht kleinen
Fragen der Fachgesetzgebung zu ziehen? Konnten sie die Centrifugalkraft
der Einzelstaatsgewalten und die Centripetalkraft der Bundesstaatsgewalt
ganz zuverlässig vorausberechnen? Konnten sie über die Einsetzung des
obersten Gerichtshofs, über die Schaffung der Rechtseinheit, über die Durch¬
bildung des Verwaltungsrechts im Bunde von vorn herein entscheiden?
Es wäre eine Täuschung, wenn man dies behaupten wollte. Die Berathung
der Bundesverfassung im Reichstage hat so viele, so wesentliche, so glückliche
Ergänzungen und Erweiterungen des ursprünglichen Entwurfs gefördert: es
ist nicht anders möglich, als daß auch die Verwirklichung der Bundesver¬
fassung viele wesentliche und glückliche Ergänzungen und Erweiterungen für
die Verfassung brachte und ferner bringt.
Die Leichtigkeit der Verfassungsänderung ist für den norddeutschen Bund
unentbehrlich, sie wird für den neuen deutschen Bund noch unentbehrlicher sein.
Die Gefahr, daß Competenzzweifel sich immer und immer erneuern, daß sich
eine vollkommene Competenzjurisprudenz entwickelt, ist da und nicht zu un¬
terschätzen. Jede, auch eine bloß scheinbare Unsicherheit des Rechtszustandes,
schließt Nachtheile in sich. Weit größer als diese Gefahr ist jedoch die andre,
daß der neue Bundesstaat sich in der Freiheit des Wachsens und Werdens ge¬
hemmt sieht, daß seine Staatsmänner durch engherzige, wider- oder sogar
böswillige Bedenken in der Ausgestaltung ihrer Gedanken gehindert werden.
Grenzboten IV. 187N. 5
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