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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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voll; mögen seine Verluste auch noch so groß gewesen sein, er mußte doch noch min¬
destens 120,000 Mann zu seiner Verfügung gehabt haben, während die deutsche
Belagerungsarmee seit Ende August nicht über 230,000 Mann stark gewesen ist.
Diese lagen in einem Kreise, der im ersten Gliede etwa 6 Meilen umspannte (also
in den Massen wenigstens 9--10 Meilen) und durch die Mosel in zwei Stücke
geschnitten war. Wenn eine Armee wie die Bazaine's es nicht dazu bringen
konnte, in überlegener Stärke sich auf einen Punkt dieses Umkreises zu wer¬
fen und durchzubrechen, ehe die deutschen Truppen genügende Verstärkungen
heranziehen konnten, so muß man schließen, daß entweder die Vorkehrungen
der Belagerer über alles Lob erhaben waren, oder der Versuch zum Durch¬
bruch nicht mit der gehörigen Energie unternommen ward. Daß es an letz¬
terer jedenfalls fehlte, melden Berichte von beiden Seiten. Der sehr bewährte
miltärische Correspondent der Daily News sagte, nach der Ansicht des Ge¬
nerals v. Zastrow, welcher das Gehölz von Vaux am Morgen des 19. August
besetzt hielt, hätte Bazaine damals vermeiden können, in Metz eingeschlossen
zu werden, und auch später sich durchschlagen und weit eher sich mit Mac
Mahon vereinigen können, als dieser mit ihm. Andererseits erzählt der fran¬
zösische Divisionsgeneral Bisson in seiner Relation über die Capitulation, die
Divisions- und Brigade-Generäle seien von dem Oberbefehlshaber nie zu
Rathe gezogen, unvermittelt sei ihnen am 8. October mitgetheilt, daß die
Armee nur noch für 8 Tage Lebensmittel habe. Die Divisionsgeneräle des
sechsten Armeecorps schlugen darauf vor, eine Capitulation auf der Basis zu
versuchen, daß die Armee sich unter der Bedingung, in diesem Kriege nicht
wieder gegen Deutschland zu kämpfen, in den Süden Frankreichs zurück¬
ziehen dürfe, wogegen die Festung Metz die Freiheit behalten sollte, ihre
Vertheidigung fortzusetzen. Würden diese Bedingungen nicht vom Feinde
acceptirt. so müsse aus jede Gefahr hin ein Durchbruch versucht werden. Für
die Eventualität desselben entwarf General Bisson einen Plan, wonach man
sich der waldigen Höhen bemächtigen sollte, die sich am linken Moselufer fast
bis Thionville hinstrecken; unterhalb der Wälder passirend konnte die Armee
die deutschen Batterien von Saulny, Novron, Bellevue, Feve und Semicourt
vermeiden, die preußischen Linien im Thule werfen, Thionville erreichen und
von da nach Meziöres gelangen. Wir überlassen es Sachkundigeren, zu be¬
urtheilen, ob ein solcher Plan damals noch Chance hatte, aber auffallend
ist der Umstand, daß die Generäle aus ihre Eingabe gar keine Antwort er¬
hielten; erst am 18. begann man ihnen zögernd den wahren Stand der
Sache mitzutheilen.

Der Grund dieses Zögerns war derselbe, welcher verhängnisvoll für die
französische Kriegführung geworden ist, die Lähmung der militärischen Action
durch politische Rücksichten.


Grenzboten IV. 187U. 40

voll; mögen seine Verluste auch noch so groß gewesen sein, er mußte doch noch min¬
destens 120,000 Mann zu seiner Verfügung gehabt haben, während die deutsche
Belagerungsarmee seit Ende August nicht über 230,000 Mann stark gewesen ist.
Diese lagen in einem Kreise, der im ersten Gliede etwa 6 Meilen umspannte (also
in den Massen wenigstens 9—10 Meilen) und durch die Mosel in zwei Stücke
geschnitten war. Wenn eine Armee wie die Bazaine's es nicht dazu bringen
konnte, in überlegener Stärke sich auf einen Punkt dieses Umkreises zu wer¬
fen und durchzubrechen, ehe die deutschen Truppen genügende Verstärkungen
heranziehen konnten, so muß man schließen, daß entweder die Vorkehrungen
der Belagerer über alles Lob erhaben waren, oder der Versuch zum Durch¬
bruch nicht mit der gehörigen Energie unternommen ward. Daß es an letz¬
terer jedenfalls fehlte, melden Berichte von beiden Seiten. Der sehr bewährte
miltärische Correspondent der Daily News sagte, nach der Ansicht des Ge¬
nerals v. Zastrow, welcher das Gehölz von Vaux am Morgen des 19. August
besetzt hielt, hätte Bazaine damals vermeiden können, in Metz eingeschlossen
zu werden, und auch später sich durchschlagen und weit eher sich mit Mac
Mahon vereinigen können, als dieser mit ihm. Andererseits erzählt der fran¬
zösische Divisionsgeneral Bisson in seiner Relation über die Capitulation, die
Divisions- und Brigade-Generäle seien von dem Oberbefehlshaber nie zu
Rathe gezogen, unvermittelt sei ihnen am 8. October mitgetheilt, daß die
Armee nur noch für 8 Tage Lebensmittel habe. Die Divisionsgeneräle des
sechsten Armeecorps schlugen darauf vor, eine Capitulation auf der Basis zu
versuchen, daß die Armee sich unter der Bedingung, in diesem Kriege nicht
wieder gegen Deutschland zu kämpfen, in den Süden Frankreichs zurück¬
ziehen dürfe, wogegen die Festung Metz die Freiheit behalten sollte, ihre
Vertheidigung fortzusetzen. Würden diese Bedingungen nicht vom Feinde
acceptirt. so müsse aus jede Gefahr hin ein Durchbruch versucht werden. Für
die Eventualität desselben entwarf General Bisson einen Plan, wonach man
sich der waldigen Höhen bemächtigen sollte, die sich am linken Moselufer fast
bis Thionville hinstrecken; unterhalb der Wälder passirend konnte die Armee
die deutschen Batterien von Saulny, Novron, Bellevue, Feve und Semicourt
vermeiden, die preußischen Linien im Thule werfen, Thionville erreichen und
von da nach Meziöres gelangen. Wir überlassen es Sachkundigeren, zu be¬
urtheilen, ob ein solcher Plan damals noch Chance hatte, aber auffallend
ist der Umstand, daß die Generäle aus ihre Eingabe gar keine Antwort er¬
hielten; erst am 18. begann man ihnen zögernd den wahren Stand der
Sache mitzutheilen.

Der Grund dieses Zögerns war derselbe, welcher verhängnisvoll für die
französische Kriegführung geworden ist, die Lähmung der militärischen Action
durch politische Rücksichten.


Grenzboten IV. 187U. 40
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[0321] voll; mögen seine Verluste auch noch so groß gewesen sein, er mußte doch noch min¬ destens 120,000 Mann zu seiner Verfügung gehabt haben, während die deutsche Belagerungsarmee seit Ende August nicht über 230,000 Mann stark gewesen ist. Diese lagen in einem Kreise, der im ersten Gliede etwa 6 Meilen umspannte (also in den Massen wenigstens 9—10 Meilen) und durch die Mosel in zwei Stücke geschnitten war. Wenn eine Armee wie die Bazaine's es nicht dazu bringen konnte, in überlegener Stärke sich auf einen Punkt dieses Umkreises zu wer¬ fen und durchzubrechen, ehe die deutschen Truppen genügende Verstärkungen heranziehen konnten, so muß man schließen, daß entweder die Vorkehrungen der Belagerer über alles Lob erhaben waren, oder der Versuch zum Durch¬ bruch nicht mit der gehörigen Energie unternommen ward. Daß es an letz¬ terer jedenfalls fehlte, melden Berichte von beiden Seiten. Der sehr bewährte miltärische Correspondent der Daily News sagte, nach der Ansicht des Ge¬ nerals v. Zastrow, welcher das Gehölz von Vaux am Morgen des 19. August besetzt hielt, hätte Bazaine damals vermeiden können, in Metz eingeschlossen zu werden, und auch später sich durchschlagen und weit eher sich mit Mac Mahon vereinigen können, als dieser mit ihm. Andererseits erzählt der fran¬ zösische Divisionsgeneral Bisson in seiner Relation über die Capitulation, die Divisions- und Brigade-Generäle seien von dem Oberbefehlshaber nie zu Rathe gezogen, unvermittelt sei ihnen am 8. October mitgetheilt, daß die Armee nur noch für 8 Tage Lebensmittel habe. Die Divisionsgeneräle des sechsten Armeecorps schlugen darauf vor, eine Capitulation auf der Basis zu versuchen, daß die Armee sich unter der Bedingung, in diesem Kriege nicht wieder gegen Deutschland zu kämpfen, in den Süden Frankreichs zurück¬ ziehen dürfe, wogegen die Festung Metz die Freiheit behalten sollte, ihre Vertheidigung fortzusetzen. Würden diese Bedingungen nicht vom Feinde acceptirt. so müsse aus jede Gefahr hin ein Durchbruch versucht werden. Für die Eventualität desselben entwarf General Bisson einen Plan, wonach man sich der waldigen Höhen bemächtigen sollte, die sich am linken Moselufer fast bis Thionville hinstrecken; unterhalb der Wälder passirend konnte die Armee die deutschen Batterien von Saulny, Novron, Bellevue, Feve und Semicourt vermeiden, die preußischen Linien im Thule werfen, Thionville erreichen und von da nach Meziöres gelangen. Wir überlassen es Sachkundigeren, zu be¬ urtheilen, ob ein solcher Plan damals noch Chance hatte, aber auffallend ist der Umstand, daß die Generäle aus ihre Eingabe gar keine Antwort er¬ hielten; erst am 18. begann man ihnen zögernd den wahren Stand der Sache mitzutheilen. Der Grund dieses Zögerns war derselbe, welcher verhängnisvoll für die französische Kriegführung geworden ist, die Lähmung der militärischen Action durch politische Rücksichten. Grenzboten IV. 187U. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/321>, abgerufen am 23.12.2024.