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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Und nun? Ueber Nacht ist der ganze stolze Bau zusammengebrochen
und Frankreich in ein Chaos gestürzt, wie es ähnlich nur in den Zeiten des
Convents gefunden wird.

Eine derartige Katastrophe rechtfertigt wohl den Versuch, einen tieferen
Einblick in ihre Ursachen zu gewinnen.

Tocqueville hat uns gezeigt, wie die französische Revolution das im
Unterbau bereits bestehende System der Centralisation nur consequent durch¬
führte. An die Begründung einer Selbstverwaltung dachte Niemand, im
Gegentheil man zerstörte dieselbe, wo sie sich noch vorfand, wie in den Stän¬
den von Languedoc, weil dasselbe den Gleichheitsideen der Revolution feind¬
lich war. Aus dem furchtbaren Wirrsal der Schreckenszeit konnte nur eine
Organisation retten, welche den gebieterischen Bedürfnissen genügte, die
jede Regierung hat. Die Nation, noch vollkommen mit ihrer wirthschaft¬
lichen und socialen Neugestaltung beschäftigt, verlangte nur Ordnung und
ein Regiment, welches die materiellen Errungenschaften der Revolution sicher¬
stellte, sie hatte keine Zeit und noch weniger Neigung, die schwere Arbeit
der Selbstverwaltung zu übernehmen, und fand sich mit dem Staat durch
Steuerzahlung und Conscription ab. So gründete Napoleon I. die Regie¬
rung des neuen Frankreich auf die centralisirte Verwaltung, welche nur das
unter Richelieu und Ludwig XIV. begonnene Werk bis zur letzten Consequenz
durchführte und von allem feudalen Beiwerk der alten Gesellschaft befreite.
Ein solches Regierungssystem mußte despotisch sein, eine Volksvertretung
konnte in ihm nur ein Kors ä'osuvi'v bilden, neben dem kaiserlichen Kabinet
war nur der Staatsrath als höchste berathende Behörde von Bedeutung.
"Die Staatsräthe in ihrer Verbindung waren meine Gedanken im Stadium
der Ueberlegung, wie die Minister meine Gedanken im Stadium der Hand¬
lung", äußerte der Kaiser später, beide also nur Gehilfen ohne Selbst-
ständigkeit.

An dieser vorgefundenen Organisation des Kaiserreichs hat weder die
Restauration noch die Julimonarchie etwas wesentliches geändert, die freien
Institutionen der geschriebenen Verfassungsurkunden berührten nur die Ober¬
fläche des Volkslebens, die übermächtige Gewalt der Beamtenhierarchie blieb
unangetastet, sie war in neue Hände übergegangen, aber setzte ihr unpersön¬
liches, anonymes Werk mit ungeschwächten Mitteln fort, die bourbonischen
Präfecten waren gerade so absolut wie die bonapartistischen. Hätte die Re¬
stauration einen schöpferischen Staatsmann gehabt, der das unwiederbringlich
Verlorne im ancien rö^ime entschlossen über Bord geworfen und gestrebt
hätte, durch municipale und provinzielle Organisation ein Gegengewicht gegen
die verderbliche Alleinherrschaft von Paris zu gewinnen, so wäre Karl's X.
Thron vielleicht nicht vor einer Emeute zusammengebrochen. Aber statt dessen


Und nun? Ueber Nacht ist der ganze stolze Bau zusammengebrochen
und Frankreich in ein Chaos gestürzt, wie es ähnlich nur in den Zeiten des
Convents gefunden wird.

Eine derartige Katastrophe rechtfertigt wohl den Versuch, einen tieferen
Einblick in ihre Ursachen zu gewinnen.

Tocqueville hat uns gezeigt, wie die französische Revolution das im
Unterbau bereits bestehende System der Centralisation nur consequent durch¬
führte. An die Begründung einer Selbstverwaltung dachte Niemand, im
Gegentheil man zerstörte dieselbe, wo sie sich noch vorfand, wie in den Stän¬
den von Languedoc, weil dasselbe den Gleichheitsideen der Revolution feind¬
lich war. Aus dem furchtbaren Wirrsal der Schreckenszeit konnte nur eine
Organisation retten, welche den gebieterischen Bedürfnissen genügte, die
jede Regierung hat. Die Nation, noch vollkommen mit ihrer wirthschaft¬
lichen und socialen Neugestaltung beschäftigt, verlangte nur Ordnung und
ein Regiment, welches die materiellen Errungenschaften der Revolution sicher¬
stellte, sie hatte keine Zeit und noch weniger Neigung, die schwere Arbeit
der Selbstverwaltung zu übernehmen, und fand sich mit dem Staat durch
Steuerzahlung und Conscription ab. So gründete Napoleon I. die Regie¬
rung des neuen Frankreich auf die centralisirte Verwaltung, welche nur das
unter Richelieu und Ludwig XIV. begonnene Werk bis zur letzten Consequenz
durchführte und von allem feudalen Beiwerk der alten Gesellschaft befreite.
Ein solches Regierungssystem mußte despotisch sein, eine Volksvertretung
konnte in ihm nur ein Kors ä'osuvi'v bilden, neben dem kaiserlichen Kabinet
war nur der Staatsrath als höchste berathende Behörde von Bedeutung.
„Die Staatsräthe in ihrer Verbindung waren meine Gedanken im Stadium
der Ueberlegung, wie die Minister meine Gedanken im Stadium der Hand¬
lung", äußerte der Kaiser später, beide also nur Gehilfen ohne Selbst-
ständigkeit.

An dieser vorgefundenen Organisation des Kaiserreichs hat weder die
Restauration noch die Julimonarchie etwas wesentliches geändert, die freien
Institutionen der geschriebenen Verfassungsurkunden berührten nur die Ober¬
fläche des Volkslebens, die übermächtige Gewalt der Beamtenhierarchie blieb
unangetastet, sie war in neue Hände übergegangen, aber setzte ihr unpersön¬
liches, anonymes Werk mit ungeschwächten Mitteln fort, die bourbonischen
Präfecten waren gerade so absolut wie die bonapartistischen. Hätte die Re¬
stauration einen schöpferischen Staatsmann gehabt, der das unwiederbringlich
Verlorne im ancien rö^ime entschlossen über Bord geworfen und gestrebt
hätte, durch municipale und provinzielle Organisation ein Gegengewicht gegen
die verderbliche Alleinherrschaft von Paris zu gewinnen, so wäre Karl's X.
Thron vielleicht nicht vor einer Emeute zusammengebrochen. Aber statt dessen


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[0210] Und nun? Ueber Nacht ist der ganze stolze Bau zusammengebrochen und Frankreich in ein Chaos gestürzt, wie es ähnlich nur in den Zeiten des Convents gefunden wird. Eine derartige Katastrophe rechtfertigt wohl den Versuch, einen tieferen Einblick in ihre Ursachen zu gewinnen. Tocqueville hat uns gezeigt, wie die französische Revolution das im Unterbau bereits bestehende System der Centralisation nur consequent durch¬ führte. An die Begründung einer Selbstverwaltung dachte Niemand, im Gegentheil man zerstörte dieselbe, wo sie sich noch vorfand, wie in den Stän¬ den von Languedoc, weil dasselbe den Gleichheitsideen der Revolution feind¬ lich war. Aus dem furchtbaren Wirrsal der Schreckenszeit konnte nur eine Organisation retten, welche den gebieterischen Bedürfnissen genügte, die jede Regierung hat. Die Nation, noch vollkommen mit ihrer wirthschaft¬ lichen und socialen Neugestaltung beschäftigt, verlangte nur Ordnung und ein Regiment, welches die materiellen Errungenschaften der Revolution sicher¬ stellte, sie hatte keine Zeit und noch weniger Neigung, die schwere Arbeit der Selbstverwaltung zu übernehmen, und fand sich mit dem Staat durch Steuerzahlung und Conscription ab. So gründete Napoleon I. die Regie¬ rung des neuen Frankreich auf die centralisirte Verwaltung, welche nur das unter Richelieu und Ludwig XIV. begonnene Werk bis zur letzten Consequenz durchführte und von allem feudalen Beiwerk der alten Gesellschaft befreite. Ein solches Regierungssystem mußte despotisch sein, eine Volksvertretung konnte in ihm nur ein Kors ä'osuvi'v bilden, neben dem kaiserlichen Kabinet war nur der Staatsrath als höchste berathende Behörde von Bedeutung. „Die Staatsräthe in ihrer Verbindung waren meine Gedanken im Stadium der Ueberlegung, wie die Minister meine Gedanken im Stadium der Hand¬ lung", äußerte der Kaiser später, beide also nur Gehilfen ohne Selbst- ständigkeit. An dieser vorgefundenen Organisation des Kaiserreichs hat weder die Restauration noch die Julimonarchie etwas wesentliches geändert, die freien Institutionen der geschriebenen Verfassungsurkunden berührten nur die Ober¬ fläche des Volkslebens, die übermächtige Gewalt der Beamtenhierarchie blieb unangetastet, sie war in neue Hände übergegangen, aber setzte ihr unpersön¬ liches, anonymes Werk mit ungeschwächten Mitteln fort, die bourbonischen Präfecten waren gerade so absolut wie die bonapartistischen. Hätte die Re¬ stauration einen schöpferischen Staatsmann gehabt, der das unwiederbringlich Verlorne im ancien rö^ime entschlossen über Bord geworfen und gestrebt hätte, durch municipale und provinzielle Organisation ein Gegengewicht gegen die verderbliche Alleinherrschaft von Paris zu gewinnen, so wäre Karl's X. Thron vielleicht nicht vor einer Emeute zusammengebrochen. Aber statt dessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/210>, abgerufen am 22.12.2024.