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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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großen Theil Frankreichs. Mülhäuser Capitalisten verpflanzten auch Wohl
ihre Betriebsamkeit in das badische Wiesenthal. Aber dieser materiellen
Entwicklung stand eine betrübende geistige und moralische Verkümme¬
rung gegenüber. Allerdings hat die wesentlich auf deutscher Wissenschaft
fußende Strasburger Theologie sehr Tüchtiges geleistet und das elsässische
Schulwesen behauptet in Frankreich wohl den ersten Rang. Wo aber ist
im Ganzen die geistige Thätigkeit des Landes? Was der höheren Bildung
angehörte, strebte mit sehr wenigen Ausnahmen nach französischer Art, stieß
die deutsche Herkunft zum Theil mit der ganzen Leidenschaftlichkeit des Apo¬
staten von sich, da doch Land und Volk noch immer ganz überwiegend deutsch
war. Jeder gute deutsche Ortsname wurde verhunzt, die Volkssprache ver¬
wildert und die edleren Keime der Volksbildung erstickt. Unter den vielen
tausend Deutschen, welche in den letzten Wochen nach Strasburg gepilgert
sind, kann Keiner die theure Stadt ohne sehr unerfreuliche Empfindungen be¬
trachtet haben. Schlimmer als die Trümmer, welche deutsche Kugeln ge¬
macht haben, sind die Ruinen gesunden geistigen Wesens, mit denen die
ganze Stadt erfüllt ist. Wohin man sieht, nimmt man die fatalen Folgen
französischer.Centralisation und der eigenthümlichen modernen Barbarei wahr,
welche man in Paris Civilisation zu nennen liebte. Wer diese Stadt von
80,000 Einwohnern mit irgend einer deutschen Stadt ähnlicher Größe ver¬
gleicht, z. B. mit Stuttgart, wird von dem ungeheuren Abstand betroffen.
Ueberall wird es deutlich, daß diese Stadt lange in den Händen eines Volkes
war, in dem die Blicke und Wünsche der Wohlhabenden sich mehr und mehr
nach Paris richteten und das daher für eine angemessene Pflege der Provin-
zialstadt gar keinen Sinn hatte. Da man in Straßburg nur so lange lebte,
als man mußte, und das eigentliche Glück und den wahren Genuß ausschlie߬
lich in Paris suchte, mußte die Stadt nothwendig etwas Verkümmertes be¬
kommen. Ein irgendwie selbständiges öffentliches Leben konnte natürlich
ebenso wenig aufblühen wie eine angemessene Theilnahme der Bevölkerung
für Kunst und Wissenschaft. Fand man irgendwo in einem Wirths- oder
Kaffeehause eine behaglichere Unterkunft, so meinte man nach einem geringe¬
ren Quartiere von Paris versetzt zu sein; was sich zu dieser Copie nicht auf¬
zuschwingen vermochte, war dürftig, unsauber. Und die Bekanntschaften, die
gar häufig in den Bädern des Schwarzwaldes mit Elsässern gemacht werden
konnten, erweckten wo möglich noch unerquicklichere Vorstellungen. Ein ganz
leeres Prunken mit französischem Firniß, ein übermüthiges Herabsehen auf
die deutschen Nachbarn machte die Elsässer zu den unliebenswürdigsten Gästen.

Bei aller Scheu vor Prophezeiungen drängt sich nichtsdestoweniger die
Behauptung auf, daß die Elsässer nach ihrer Wiedervereinigung mit Deutsch¬
land eine reiche Fülle werthvollsten Gewinns erlangen werden. Von den


großen Theil Frankreichs. Mülhäuser Capitalisten verpflanzten auch Wohl
ihre Betriebsamkeit in das badische Wiesenthal. Aber dieser materiellen
Entwicklung stand eine betrübende geistige und moralische Verkümme¬
rung gegenüber. Allerdings hat die wesentlich auf deutscher Wissenschaft
fußende Strasburger Theologie sehr Tüchtiges geleistet und das elsässische
Schulwesen behauptet in Frankreich wohl den ersten Rang. Wo aber ist
im Ganzen die geistige Thätigkeit des Landes? Was der höheren Bildung
angehörte, strebte mit sehr wenigen Ausnahmen nach französischer Art, stieß
die deutsche Herkunft zum Theil mit der ganzen Leidenschaftlichkeit des Apo¬
staten von sich, da doch Land und Volk noch immer ganz überwiegend deutsch
war. Jeder gute deutsche Ortsname wurde verhunzt, die Volkssprache ver¬
wildert und die edleren Keime der Volksbildung erstickt. Unter den vielen
tausend Deutschen, welche in den letzten Wochen nach Strasburg gepilgert
sind, kann Keiner die theure Stadt ohne sehr unerfreuliche Empfindungen be¬
trachtet haben. Schlimmer als die Trümmer, welche deutsche Kugeln ge¬
macht haben, sind die Ruinen gesunden geistigen Wesens, mit denen die
ganze Stadt erfüllt ist. Wohin man sieht, nimmt man die fatalen Folgen
französischer.Centralisation und der eigenthümlichen modernen Barbarei wahr,
welche man in Paris Civilisation zu nennen liebte. Wer diese Stadt von
80,000 Einwohnern mit irgend einer deutschen Stadt ähnlicher Größe ver¬
gleicht, z. B. mit Stuttgart, wird von dem ungeheuren Abstand betroffen.
Ueberall wird es deutlich, daß diese Stadt lange in den Händen eines Volkes
war, in dem die Blicke und Wünsche der Wohlhabenden sich mehr und mehr
nach Paris richteten und das daher für eine angemessene Pflege der Provin-
zialstadt gar keinen Sinn hatte. Da man in Straßburg nur so lange lebte,
als man mußte, und das eigentliche Glück und den wahren Genuß ausschlie߬
lich in Paris suchte, mußte die Stadt nothwendig etwas Verkümmertes be¬
kommen. Ein irgendwie selbständiges öffentliches Leben konnte natürlich
ebenso wenig aufblühen wie eine angemessene Theilnahme der Bevölkerung
für Kunst und Wissenschaft. Fand man irgendwo in einem Wirths- oder
Kaffeehause eine behaglichere Unterkunft, so meinte man nach einem geringe¬
ren Quartiere von Paris versetzt zu sein; was sich zu dieser Copie nicht auf¬
zuschwingen vermochte, war dürftig, unsauber. Und die Bekanntschaften, die
gar häufig in den Bädern des Schwarzwaldes mit Elsässern gemacht werden
konnten, erweckten wo möglich noch unerquicklichere Vorstellungen. Ein ganz
leeres Prunken mit französischem Firniß, ein übermüthiges Herabsehen auf
die deutschen Nachbarn machte die Elsässer zu den unliebenswürdigsten Gästen.

Bei aller Scheu vor Prophezeiungen drängt sich nichtsdestoweniger die
Behauptung auf, daß die Elsässer nach ihrer Wiedervereinigung mit Deutsch¬
land eine reiche Fülle werthvollsten Gewinns erlangen werden. Von den


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[0118] großen Theil Frankreichs. Mülhäuser Capitalisten verpflanzten auch Wohl ihre Betriebsamkeit in das badische Wiesenthal. Aber dieser materiellen Entwicklung stand eine betrübende geistige und moralische Verkümme¬ rung gegenüber. Allerdings hat die wesentlich auf deutscher Wissenschaft fußende Strasburger Theologie sehr Tüchtiges geleistet und das elsässische Schulwesen behauptet in Frankreich wohl den ersten Rang. Wo aber ist im Ganzen die geistige Thätigkeit des Landes? Was der höheren Bildung angehörte, strebte mit sehr wenigen Ausnahmen nach französischer Art, stieß die deutsche Herkunft zum Theil mit der ganzen Leidenschaftlichkeit des Apo¬ staten von sich, da doch Land und Volk noch immer ganz überwiegend deutsch war. Jeder gute deutsche Ortsname wurde verhunzt, die Volkssprache ver¬ wildert und die edleren Keime der Volksbildung erstickt. Unter den vielen tausend Deutschen, welche in den letzten Wochen nach Strasburg gepilgert sind, kann Keiner die theure Stadt ohne sehr unerfreuliche Empfindungen be¬ trachtet haben. Schlimmer als die Trümmer, welche deutsche Kugeln ge¬ macht haben, sind die Ruinen gesunden geistigen Wesens, mit denen die ganze Stadt erfüllt ist. Wohin man sieht, nimmt man die fatalen Folgen französischer.Centralisation und der eigenthümlichen modernen Barbarei wahr, welche man in Paris Civilisation zu nennen liebte. Wer diese Stadt von 80,000 Einwohnern mit irgend einer deutschen Stadt ähnlicher Größe ver¬ gleicht, z. B. mit Stuttgart, wird von dem ungeheuren Abstand betroffen. Ueberall wird es deutlich, daß diese Stadt lange in den Händen eines Volkes war, in dem die Blicke und Wünsche der Wohlhabenden sich mehr und mehr nach Paris richteten und das daher für eine angemessene Pflege der Provin- zialstadt gar keinen Sinn hatte. Da man in Straßburg nur so lange lebte, als man mußte, und das eigentliche Glück und den wahren Genuß ausschlie߬ lich in Paris suchte, mußte die Stadt nothwendig etwas Verkümmertes be¬ kommen. Ein irgendwie selbständiges öffentliches Leben konnte natürlich ebenso wenig aufblühen wie eine angemessene Theilnahme der Bevölkerung für Kunst und Wissenschaft. Fand man irgendwo in einem Wirths- oder Kaffeehause eine behaglichere Unterkunft, so meinte man nach einem geringe¬ ren Quartiere von Paris versetzt zu sein; was sich zu dieser Copie nicht auf¬ zuschwingen vermochte, war dürftig, unsauber. Und die Bekanntschaften, die gar häufig in den Bädern des Schwarzwaldes mit Elsässern gemacht werden konnten, erweckten wo möglich noch unerquicklichere Vorstellungen. Ein ganz leeres Prunken mit französischem Firniß, ein übermüthiges Herabsehen auf die deutschen Nachbarn machte die Elsässer zu den unliebenswürdigsten Gästen. Bei aller Scheu vor Prophezeiungen drängt sich nichtsdestoweniger die Behauptung auf, daß die Elsässer nach ihrer Wiedervereinigung mit Deutsch¬ land eine reiche Fülle werthvollsten Gewinns erlangen werden. Von den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/118>, abgerufen am 22.12.2024.