Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Staatsmann, um an der Weise Geschmack zu finden, wie Bismarck die Auf¬
gabe anfaßte; die Antipathie gegen denselben bestimmte auch seine schwankend
vermittelnde Haltung auf der dänisch-deutschen Confersnz in London, sowie
seine östreichischen Sympathien i. I. 1866. Diese Tendenz sprach sich, ob¬
wohl er sich wie das Cabinet überhaupt von jeder oirecten Intervention fern¬
hielt, doch z. B. darin aus. daß, als er nach Palmerston's Tode wieder das
Auswärtige Ministerium übernommen, er den mit Graf Bismarck persönlich
befreundeten Botschafter Lord Napier von Berlin abberief und dupes den
wenigstens damals sehr arti'bismarckischen Lord Augustus Loftus ersetzte.

Nach dem Sturze des Russel'schen Ministeriums trat er auf 2^ Jahre
ins Privatleben zurück, um dann unter Gladstone seinen alten Posten noch
einmal einzunehmen; schon länger abe^ kränkelte er und sprach oft die Absicht
aus, sich zurückzuziehen; den letzten Stoß mag ihm die Aufregung und Arbeit
der Marathonaffaire gegeben haben; ein Choleraanfall raffte ihn schnell dahin.

Lord Clarendon war, wie gesagt, kein großer Staatsmann, aber erhalte
Eigenschaften, welche nichts destoweniger seinen Tod zu einem Verlust für
England machen. Er war ein geschulter Diplomat und Geschäftsmann und
zugleich das Muster eines liberalen Aristokraten. Mit großer Kenntniß
aller auswärtigen Verhältnisse verband er einen persönlichen Einfluß auf
fremde Souveräne und Staatsmänner, den er ebenso sehr seiner socialen
Stellung wie seiner Intelligenz und seiner Bildung verdankte. Seine außer¬
ordentlich gewinnenden Formen, seine Fähigkeit, auf die Ansichten und In¬
teressen Anderer einzugehen, sein gerades und doch rücksichtsvolles Wesen be¬
fähigten ihn, in vielen Fällen vermittelnd einzutreten, wo die Rathschläge
eines Palmerston nur gereizt hätten. Dabei fehlte es ihm keineswegs an
Muth, wie er denn z. B. noch neulich, als er vor dem diplomatischen Comite'
des Unterhauses wegen Verwendung der geheimen Fonds seines Departe¬
ments befragt wurde, darüber Auskunft zu geben verweigerte und bemerkte:
wenn dem auswärtigen Minister nicht die Verwendung dieser verhältni߬
mäßig wenig bedeutenden Fonds anvertraut werden kann, so ist er nicht
fähig zur Leitung der großen und verwickelten Geschäfte, die sein unbestritte-
nes Gebiet sind.

Sein Nachfolger, Lord Granville, ist so ziemlich die beste Kapacität,
welche Gladstone wählen konnte, wenn er nicht auf Sir Henry Bulwer
kommen wollte, der unzweifelhaft der bedeutendste Candidat für das aus¬
wärtige Amt wäre, aber kein Anhänger der unbedingten Nichttnterventions-
Politik ist. So lange diese das oberste Gebot für die auswärtigen Be¬
ziehungen bildet, wird Granville die Geschäfte gut leiten. Er hat verbind¬
liche Formen, guten Witz und ist ein besserer Redner als Clarendon, vereinigt
auch, so viel wir wissen, zum ersten Male das Auswärtige Amt mit der


Gr-nzboten lit. 1870. 19

Staatsmann, um an der Weise Geschmack zu finden, wie Bismarck die Auf¬
gabe anfaßte; die Antipathie gegen denselben bestimmte auch seine schwankend
vermittelnde Haltung auf der dänisch-deutschen Confersnz in London, sowie
seine östreichischen Sympathien i. I. 1866. Diese Tendenz sprach sich, ob¬
wohl er sich wie das Cabinet überhaupt von jeder oirecten Intervention fern¬
hielt, doch z. B. darin aus. daß, als er nach Palmerston's Tode wieder das
Auswärtige Ministerium übernommen, er den mit Graf Bismarck persönlich
befreundeten Botschafter Lord Napier von Berlin abberief und dupes den
wenigstens damals sehr arti'bismarckischen Lord Augustus Loftus ersetzte.

Nach dem Sturze des Russel'schen Ministeriums trat er auf 2^ Jahre
ins Privatleben zurück, um dann unter Gladstone seinen alten Posten noch
einmal einzunehmen; schon länger abe^ kränkelte er und sprach oft die Absicht
aus, sich zurückzuziehen; den letzten Stoß mag ihm die Aufregung und Arbeit
der Marathonaffaire gegeben haben; ein Choleraanfall raffte ihn schnell dahin.

Lord Clarendon war, wie gesagt, kein großer Staatsmann, aber erhalte
Eigenschaften, welche nichts destoweniger seinen Tod zu einem Verlust für
England machen. Er war ein geschulter Diplomat und Geschäftsmann und
zugleich das Muster eines liberalen Aristokraten. Mit großer Kenntniß
aller auswärtigen Verhältnisse verband er einen persönlichen Einfluß auf
fremde Souveräne und Staatsmänner, den er ebenso sehr seiner socialen
Stellung wie seiner Intelligenz und seiner Bildung verdankte. Seine außer¬
ordentlich gewinnenden Formen, seine Fähigkeit, auf die Ansichten und In¬
teressen Anderer einzugehen, sein gerades und doch rücksichtsvolles Wesen be¬
fähigten ihn, in vielen Fällen vermittelnd einzutreten, wo die Rathschläge
eines Palmerston nur gereizt hätten. Dabei fehlte es ihm keineswegs an
Muth, wie er denn z. B. noch neulich, als er vor dem diplomatischen Comite'
des Unterhauses wegen Verwendung der geheimen Fonds seines Departe¬
ments befragt wurde, darüber Auskunft zu geben verweigerte und bemerkte:
wenn dem auswärtigen Minister nicht die Verwendung dieser verhältni߬
mäßig wenig bedeutenden Fonds anvertraut werden kann, so ist er nicht
fähig zur Leitung der großen und verwickelten Geschäfte, die sein unbestritte-
nes Gebiet sind.

Sein Nachfolger, Lord Granville, ist so ziemlich die beste Kapacität,
welche Gladstone wählen konnte, wenn er nicht auf Sir Henry Bulwer
kommen wollte, der unzweifelhaft der bedeutendste Candidat für das aus¬
wärtige Amt wäre, aber kein Anhänger der unbedingten Nichttnterventions-
Politik ist. So lange diese das oberste Gebot für die auswärtigen Be¬
ziehungen bildet, wird Granville die Geschäfte gut leiten. Er hat verbind¬
liche Formen, guten Witz und ist ein besserer Redner als Clarendon, vereinigt
auch, so viel wir wissen, zum ersten Male das Auswärtige Amt mit der


Gr-nzboten lit. 1870. 19
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124303"/>
          <p xml:id="ID_405" prev="#ID_404"> Staatsmann, um an der Weise Geschmack zu finden, wie Bismarck die Auf¬<lb/>
gabe anfaßte; die Antipathie gegen denselben bestimmte auch seine schwankend<lb/>
vermittelnde Haltung auf der dänisch-deutschen Confersnz in London, sowie<lb/>
seine östreichischen Sympathien i. I. 1866. Diese Tendenz sprach sich, ob¬<lb/>
wohl er sich wie das Cabinet überhaupt von jeder oirecten Intervention fern¬<lb/>
hielt, doch z. B. darin aus. daß, als er nach Palmerston's Tode wieder das<lb/>
Auswärtige Ministerium übernommen, er den mit Graf Bismarck persönlich<lb/>
befreundeten Botschafter Lord Napier von Berlin abberief und dupes den<lb/>
wenigstens damals sehr arti'bismarckischen Lord Augustus Loftus ersetzte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_406"> Nach dem Sturze des Russel'schen Ministeriums trat er auf 2^ Jahre<lb/>
ins Privatleben zurück, um dann unter Gladstone seinen alten Posten noch<lb/>
einmal einzunehmen; schon länger abe^ kränkelte er und sprach oft die Absicht<lb/>
aus, sich zurückzuziehen; den letzten Stoß mag ihm die Aufregung und Arbeit<lb/>
der Marathonaffaire gegeben haben; ein Choleraanfall raffte ihn schnell dahin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_407"> Lord Clarendon war, wie gesagt, kein großer Staatsmann, aber erhalte<lb/>
Eigenschaften, welche nichts destoweniger seinen Tod zu einem Verlust für<lb/>
England machen. Er war ein geschulter Diplomat und Geschäftsmann und<lb/>
zugleich das Muster eines liberalen Aristokraten. Mit großer Kenntniß<lb/>
aller auswärtigen Verhältnisse verband er einen persönlichen Einfluß auf<lb/>
fremde Souveräne und Staatsmänner, den er ebenso sehr seiner socialen<lb/>
Stellung wie seiner Intelligenz und seiner Bildung verdankte. Seine außer¬<lb/>
ordentlich gewinnenden Formen, seine Fähigkeit, auf die Ansichten und In¬<lb/>
teressen Anderer einzugehen, sein gerades und doch rücksichtsvolles Wesen be¬<lb/>
fähigten ihn, in vielen Fällen vermittelnd einzutreten, wo die Rathschläge<lb/>
eines Palmerston nur gereizt hätten. Dabei fehlte es ihm keineswegs an<lb/>
Muth, wie er denn z. B. noch neulich, als er vor dem diplomatischen Comite'<lb/>
des Unterhauses wegen Verwendung der geheimen Fonds seines Departe¬<lb/>
ments befragt wurde, darüber Auskunft zu geben verweigerte und bemerkte:<lb/>
wenn dem auswärtigen Minister nicht die Verwendung dieser verhältni߬<lb/>
mäßig wenig bedeutenden Fonds anvertraut werden kann, so ist er nicht<lb/>
fähig zur Leitung der großen und verwickelten Geschäfte, die sein unbestritte-<lb/>
nes Gebiet sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_408" next="#ID_409"> Sein Nachfolger, Lord Granville, ist so ziemlich die beste Kapacität,<lb/>
welche Gladstone wählen konnte, wenn er nicht auf Sir Henry Bulwer<lb/>
kommen wollte, der unzweifelhaft der bedeutendste Candidat für das aus¬<lb/>
wärtige Amt wäre, aber kein Anhänger der unbedingten Nichttnterventions-<lb/>
Politik ist. So lange diese das oberste Gebot für die auswärtigen Be¬<lb/>
ziehungen bildet, wird Granville die Geschäfte gut leiten. Er hat verbind¬<lb/>
liche Formen, guten Witz und ist ein besserer Redner als Clarendon, vereinigt<lb/>
auch, so viel wir wissen, zum ersten Male das Auswärtige Amt mit der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gr-nzboten lit. 1870. 19</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0153] Staatsmann, um an der Weise Geschmack zu finden, wie Bismarck die Auf¬ gabe anfaßte; die Antipathie gegen denselben bestimmte auch seine schwankend vermittelnde Haltung auf der dänisch-deutschen Confersnz in London, sowie seine östreichischen Sympathien i. I. 1866. Diese Tendenz sprach sich, ob¬ wohl er sich wie das Cabinet überhaupt von jeder oirecten Intervention fern¬ hielt, doch z. B. darin aus. daß, als er nach Palmerston's Tode wieder das Auswärtige Ministerium übernommen, er den mit Graf Bismarck persönlich befreundeten Botschafter Lord Napier von Berlin abberief und dupes den wenigstens damals sehr arti'bismarckischen Lord Augustus Loftus ersetzte. Nach dem Sturze des Russel'schen Ministeriums trat er auf 2^ Jahre ins Privatleben zurück, um dann unter Gladstone seinen alten Posten noch einmal einzunehmen; schon länger abe^ kränkelte er und sprach oft die Absicht aus, sich zurückzuziehen; den letzten Stoß mag ihm die Aufregung und Arbeit der Marathonaffaire gegeben haben; ein Choleraanfall raffte ihn schnell dahin. Lord Clarendon war, wie gesagt, kein großer Staatsmann, aber erhalte Eigenschaften, welche nichts destoweniger seinen Tod zu einem Verlust für England machen. Er war ein geschulter Diplomat und Geschäftsmann und zugleich das Muster eines liberalen Aristokraten. Mit großer Kenntniß aller auswärtigen Verhältnisse verband er einen persönlichen Einfluß auf fremde Souveräne und Staatsmänner, den er ebenso sehr seiner socialen Stellung wie seiner Intelligenz und seiner Bildung verdankte. Seine außer¬ ordentlich gewinnenden Formen, seine Fähigkeit, auf die Ansichten und In¬ teressen Anderer einzugehen, sein gerades und doch rücksichtsvolles Wesen be¬ fähigten ihn, in vielen Fällen vermittelnd einzutreten, wo die Rathschläge eines Palmerston nur gereizt hätten. Dabei fehlte es ihm keineswegs an Muth, wie er denn z. B. noch neulich, als er vor dem diplomatischen Comite' des Unterhauses wegen Verwendung der geheimen Fonds seines Departe¬ ments befragt wurde, darüber Auskunft zu geben verweigerte und bemerkte: wenn dem auswärtigen Minister nicht die Verwendung dieser verhältni߬ mäßig wenig bedeutenden Fonds anvertraut werden kann, so ist er nicht fähig zur Leitung der großen und verwickelten Geschäfte, die sein unbestritte- nes Gebiet sind. Sein Nachfolger, Lord Granville, ist so ziemlich die beste Kapacität, welche Gladstone wählen konnte, wenn er nicht auf Sir Henry Bulwer kommen wollte, der unzweifelhaft der bedeutendste Candidat für das aus¬ wärtige Amt wäre, aber kein Anhänger der unbedingten Nichttnterventions- Politik ist. So lange diese das oberste Gebot für die auswärtigen Be¬ ziehungen bildet, wird Granville die Geschäfte gut leiten. Er hat verbind¬ liche Formen, guten Witz und ist ein besserer Redner als Clarendon, vereinigt auch, so viel wir wissen, zum ersten Male das Auswärtige Amt mit der Gr-nzboten lit. 1870. 19

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/153
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/153>, abgerufen am 26.06.2024.