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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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hier, ging auch nach Berlin/ um dort mit Dehn und Dr. Chrysander zu
conferir'en. Chrysander hat schon früher, bevor er sich mit Gervinus be¬
gegnete, viel für eine vollständige Händelausgabe gearbeitet, war deshalb
auch längere Zeit in London, hat schon die ganze Disposition auf 60 Bände
arrangirt, Kirche, Oper und Kammer, das würde dies Unternehmen in der
Redaction vor dem Bach'schen zum Vortheil haben, da wir jedes Jahr uns
von Neuem zu überlegen haben, was der zu liefernde Band enthalten solle
und das Ende von Allem sehr im Nebel liegt. Dagegen bringen wir viel,
von dem die Welt nichts wußte und was zum Theil zu dem Schönsten ge¬
hört. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir jetzt die II-moll-Messe ganz ge¬
hört haben? Ein hiesiger Gesangverein hat sich kürzlich an die H-woII-
Messe gemacht und hat sie mit lobenswerther Ausdauer untergekriegt, daß
es ganz gut anzuhören war. Die Aufführung war mit Orchester im
F.'schen Hause, nicht eben stark, aber genügend in allen Theilen besetzt.
Die Aufführung ist dann in der vorigen Woche noch einmal in der Pau-
liner Kirche wiederholt worden, der ich leider wegen Krankheit nicht beiwoh¬
nen konnte, sie soll aber recht gut ausgefallen sein und hat einem zwar nicht
großen, aber doch größeren Publicum Gelegenheit gegeben, das Werk jetzt viel¬
leicht zum ersten Male ganz aufgeführt kennen zu lernen. Ich kann nur von
der ersten Aufführung sprechen, diese hat mich natürlich von der ersten bis
zur letzten Note sehr interessiren müssen. Die Messe dauert fast 3 Stunden,
enthält die allersublimsten, großartigsten und schönsten Sätze, die man nur
von Bach'scher Musik hören kann, dazwischen wieder lange Strecken von der
gewissen, auch nur von Sebastian Bach zu leistenden Factur, namentlich in
lang ausgesponnenen Solosätzen, ist überhaupt doch sehr ungleich, man darf
nicht sagen im Werth, denn eben durch die Factur ist auch jedes Einzelne
künstlerisch bedeutend, aber in der Höhe der poetischen Auffassung -- denn
es ist gar Vieles darin, das man gerade nicht oft hören möchte, anderes,
auf das man nichts hören möchte, wo die Schönheit nicht in der Mache, wo
sie in der Wirkung liegt und Jeden ergreisen muß, wenn er auch gar nichts
versteht. Wie diese große ganze Messe entstanden, bleibt doch immer etwas
unerklärt. Fürs katholische Amt konnte sie nicht bestimmt sein, denn Seb.
Bach wird wohl auch gewußt haben, daß an keinem Orte der Welt
das Musikalische der Messe, überdies noch ohne 0it<zrwi-iuin und OraäuÄl",
drei Stunden dauern darf. Er müßte sie also, wie Beethoven seine O-äur-
Messe, die auch zu lang ist, zu eigener innerer Befriedigung gemacht haben;
dazu macht man aber nicht ein ?astieoio, wie es diese Bach'sche Messe ist,
in der alle Finger lang ein Stück Cantate eingemauert ist. Kyrie und
Gloria hat er nach Dresden geschickt, um einen Titel vom Churfürsten zu
erhalten (1733; die Ernennung zum Hofcompositeur kam 1736). In Dresden


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hier, ging auch nach Berlin/ um dort mit Dehn und Dr. Chrysander zu
conferir'en. Chrysander hat schon früher, bevor er sich mit Gervinus be¬
gegnete, viel für eine vollständige Händelausgabe gearbeitet, war deshalb
auch längere Zeit in London, hat schon die ganze Disposition auf 60 Bände
arrangirt, Kirche, Oper und Kammer, das würde dies Unternehmen in der
Redaction vor dem Bach'schen zum Vortheil haben, da wir jedes Jahr uns
von Neuem zu überlegen haben, was der zu liefernde Band enthalten solle
und das Ende von Allem sehr im Nebel liegt. Dagegen bringen wir viel,
von dem die Welt nichts wußte und was zum Theil zu dem Schönsten ge¬
hört. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir jetzt die II-moll-Messe ganz ge¬
hört haben? Ein hiesiger Gesangverein hat sich kürzlich an die H-woII-
Messe gemacht und hat sie mit lobenswerther Ausdauer untergekriegt, daß
es ganz gut anzuhören war. Die Aufführung war mit Orchester im
F.'schen Hause, nicht eben stark, aber genügend in allen Theilen besetzt.
Die Aufführung ist dann in der vorigen Woche noch einmal in der Pau-
liner Kirche wiederholt worden, der ich leider wegen Krankheit nicht beiwoh¬
nen konnte, sie soll aber recht gut ausgefallen sein und hat einem zwar nicht
großen, aber doch größeren Publicum Gelegenheit gegeben, das Werk jetzt viel¬
leicht zum ersten Male ganz aufgeführt kennen zu lernen. Ich kann nur von
der ersten Aufführung sprechen, diese hat mich natürlich von der ersten bis
zur letzten Note sehr interessiren müssen. Die Messe dauert fast 3 Stunden,
enthält die allersublimsten, großartigsten und schönsten Sätze, die man nur
von Bach'scher Musik hören kann, dazwischen wieder lange Strecken von der
gewissen, auch nur von Sebastian Bach zu leistenden Factur, namentlich in
lang ausgesponnenen Solosätzen, ist überhaupt doch sehr ungleich, man darf
nicht sagen im Werth, denn eben durch die Factur ist auch jedes Einzelne
künstlerisch bedeutend, aber in der Höhe der poetischen Auffassung — denn
es ist gar Vieles darin, das man gerade nicht oft hören möchte, anderes,
auf das man nichts hören möchte, wo die Schönheit nicht in der Mache, wo
sie in der Wirkung liegt und Jeden ergreisen muß, wenn er auch gar nichts
versteht. Wie diese große ganze Messe entstanden, bleibt doch immer etwas
unerklärt. Fürs katholische Amt konnte sie nicht bestimmt sein, denn Seb.
Bach wird wohl auch gewußt haben, daß an keinem Orte der Welt
das Musikalische der Messe, überdies noch ohne 0it<zrwi-iuin und OraäuÄl«,
drei Stunden dauern darf. Er müßte sie also, wie Beethoven seine O-äur-
Messe, die auch zu lang ist, zu eigener innerer Befriedigung gemacht haben;
dazu macht man aber nicht ein ?astieoio, wie es diese Bach'sche Messe ist,
in der alle Finger lang ein Stück Cantate eingemauert ist. Kyrie und
Gloria hat er nach Dresden geschickt, um einen Titel vom Churfürsten zu
erhalten (1733; die Ernennung zum Hofcompositeur kam 1736). In Dresden


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[0097] hier, ging auch nach Berlin/ um dort mit Dehn und Dr. Chrysander zu conferir'en. Chrysander hat schon früher, bevor er sich mit Gervinus be¬ gegnete, viel für eine vollständige Händelausgabe gearbeitet, war deshalb auch längere Zeit in London, hat schon die ganze Disposition auf 60 Bände arrangirt, Kirche, Oper und Kammer, das würde dies Unternehmen in der Redaction vor dem Bach'schen zum Vortheil haben, da wir jedes Jahr uns von Neuem zu überlegen haben, was der zu liefernde Band enthalten solle und das Ende von Allem sehr im Nebel liegt. Dagegen bringen wir viel, von dem die Welt nichts wußte und was zum Theil zu dem Schönsten ge¬ hört. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir jetzt die II-moll-Messe ganz ge¬ hört haben? Ein hiesiger Gesangverein hat sich kürzlich an die H-woII- Messe gemacht und hat sie mit lobenswerther Ausdauer untergekriegt, daß es ganz gut anzuhören war. Die Aufführung war mit Orchester im F.'schen Hause, nicht eben stark, aber genügend in allen Theilen besetzt. Die Aufführung ist dann in der vorigen Woche noch einmal in der Pau- liner Kirche wiederholt worden, der ich leider wegen Krankheit nicht beiwoh¬ nen konnte, sie soll aber recht gut ausgefallen sein und hat einem zwar nicht großen, aber doch größeren Publicum Gelegenheit gegeben, das Werk jetzt viel¬ leicht zum ersten Male ganz aufgeführt kennen zu lernen. Ich kann nur von der ersten Aufführung sprechen, diese hat mich natürlich von der ersten bis zur letzten Note sehr interessiren müssen. Die Messe dauert fast 3 Stunden, enthält die allersublimsten, großartigsten und schönsten Sätze, die man nur von Bach'scher Musik hören kann, dazwischen wieder lange Strecken von der gewissen, auch nur von Sebastian Bach zu leistenden Factur, namentlich in lang ausgesponnenen Solosätzen, ist überhaupt doch sehr ungleich, man darf nicht sagen im Werth, denn eben durch die Factur ist auch jedes Einzelne künstlerisch bedeutend, aber in der Höhe der poetischen Auffassung — denn es ist gar Vieles darin, das man gerade nicht oft hören möchte, anderes, auf das man nichts hören möchte, wo die Schönheit nicht in der Mache, wo sie in der Wirkung liegt und Jeden ergreisen muß, wenn er auch gar nichts versteht. Wie diese große ganze Messe entstanden, bleibt doch immer etwas unerklärt. Fürs katholische Amt konnte sie nicht bestimmt sein, denn Seb. Bach wird wohl auch gewußt haben, daß an keinem Orte der Welt das Musikalische der Messe, überdies noch ohne 0it<zrwi-iuin und OraäuÄl«, drei Stunden dauern darf. Er müßte sie also, wie Beethoven seine O-äur- Messe, die auch zu lang ist, zu eigener innerer Befriedigung gemacht haben; dazu macht man aber nicht ein ?astieoio, wie es diese Bach'sche Messe ist, in der alle Finger lang ein Stück Cantate eingemauert ist. Kyrie und Gloria hat er nach Dresden geschickt, um einen Titel vom Churfürsten zu erhalten (1733; die Ernennung zum Hofcompositeur kam 1736). In Dresden 12*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/97>, abgerufen am 01.09.2024.