Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.Erziehung der jungen Mädchen verspricht unter ihrem Einfluß einen gesünderen, Was die Staatsgewalt als solche heutzutage noch mit Rücksicht auf Das Bevölkerungsgesetz in die Form eines kategorischen Imperativs Die Frage, wie stark thatsächlich die Bevölkerung eines Landes zunehme, Erziehung der jungen Mädchen verspricht unter ihrem Einfluß einen gesünderen, Was die Staatsgewalt als solche heutzutage noch mit Rücksicht auf Das Bevölkerungsgesetz in die Form eines kategorischen Imperativs Die Frage, wie stark thatsächlich die Bevölkerung eines Landes zunehme, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123694"/> <p xml:id="ID_178" prev="#ID_177"> Erziehung der jungen Mädchen verspricht unter ihrem Einfluß einen gesünderen,<lb/> vor dem Spiel geschlechtlicher Reize freieren Ton anzunehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_179"> Was die Staatsgewalt als solche heutzutage noch mit Rücksicht auf<lb/> einen guten Gang der Bevölkerungsbewegung thun kann, beschränkt<lb/> sich auf die Reform solcher Einrichtungen, welche etwa auf unüberlegte,<lb/> leichtsinnige Vermehrung hinwirken. Dazu gehört namentlich die Zwangs¬<lb/> armenpflege. Es ist nicht zufällig, daß Malthus, der Begründer der heute<lb/> geltenden Bevölkerungslehre, auch der erste auf den Grund gehende Kritiker<lb/> der englischen Armengesetzgebung, und in derselben Schrift war, — ein Kritiker,<lb/> dessen reformirende Tendenz weit über die Palliativcur hinausging, welcher<lb/> man im Jahre 1834 die englische Armensteuer und die darauf beruhende<lb/> praktische Armenpflege entworfen hat. Was er aber an der englischen Zwangs¬<lb/> armenpflege verdammte, würde er gleicherweise oder annäherungsweise ebenso<lb/> auch an unserer Armenpflege noch zu tadeln finden: die Uebernahme der<lb/> Verantwortlichkeit für die Folgen freier, individueller Handlungen auf die<lb/> Gemeinde und den Staat.</p><lb/> <p xml:id="ID_180"> Das Bevölkerungsgesetz in die Form eines kategorischen Imperativs<lb/> gebracht, würde etwa so lauten: jede Geburt ist willkommen, für deren Auf¬<lb/> erziehung zum sich selbst erhaltenden Wesen eine wirthschaftlich befähigte Person<lb/> bereit steht; nachtheilig hingegen, eine Gefahr für das Gemeinwohl sind<lb/> Geburten, welche ohne diese Bürgschaft erfolgen. Damit ist die wirthschaft¬<lb/> liche Unerfreulichkeit der unehelichen Geburten, an denen überdies noch sittlicher<lb/> Makel und der Fluch geringerer Lebenskraft klebt, von selbst gegeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_181" next="#ID_182"> Die Frage, wie stark thatsächlich die Bevölkerung eines Landes zunehme,<lb/> hat die Wissenschaft bisher besonders in der Form der anzunehmenden Ver¬<lb/> doppelungsperiode interessiirt. Mit dieser beschäftigte sich schon der große<lb/> Mathematiker Leonhard Euler, ohne noch hinlänglichen Stoff zur Hand zu<lb/> haben. Süßmilch nahm rund hundert Jahre, Malthus auf Grund der Er¬<lb/> fahrung der Vereinigten Staaten davon nur den vierten Theil an, allerdings<lb/> aber mehr wie eine ideale, physiologisch mögliche, nicht als die wirkliche Periode.<lb/> Der berühmte belgische Statistiker Quetelet tritt ihm insofern bei. als er die<lb/> Tendenz der Volksvermehrung ebenfalls als auf geometrische Progression ge¬<lb/> richtet annimmt; aber er fügt, wiewohl ohne 'Beweis, den wesentlich ein¬<lb/> schränkenden mathematischen Satz hinzu, daß die Summe der ihr entgegen¬<lb/> stehenden Hindernisse zunehme wie das Quadrat ihrer eigenen Geschwindigkeits¬<lb/> zunahme. Guillard, der 1855 die „Demographie" als eine von ihm erfundene<lb/> neue Wissenschaft proclamirte, will gefunden haben, daß mit wechselnder<lb/> Dichtigkeit der Bevölkerung — worunter er ihr Verhältniß zu bewohnter<lb/> Fläche versteht, nicht wie E. Horn (Bevölkerungswissenschaftliche Studien aus<lb/> Belgien) zur Zahl der Wohnorte — die Vermehrung in gleichem Maße</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0074]
Erziehung der jungen Mädchen verspricht unter ihrem Einfluß einen gesünderen,
vor dem Spiel geschlechtlicher Reize freieren Ton anzunehmen.
Was die Staatsgewalt als solche heutzutage noch mit Rücksicht auf
einen guten Gang der Bevölkerungsbewegung thun kann, beschränkt
sich auf die Reform solcher Einrichtungen, welche etwa auf unüberlegte,
leichtsinnige Vermehrung hinwirken. Dazu gehört namentlich die Zwangs¬
armenpflege. Es ist nicht zufällig, daß Malthus, der Begründer der heute
geltenden Bevölkerungslehre, auch der erste auf den Grund gehende Kritiker
der englischen Armengesetzgebung, und in derselben Schrift war, — ein Kritiker,
dessen reformirende Tendenz weit über die Palliativcur hinausging, welcher
man im Jahre 1834 die englische Armensteuer und die darauf beruhende
praktische Armenpflege entworfen hat. Was er aber an der englischen Zwangs¬
armenpflege verdammte, würde er gleicherweise oder annäherungsweise ebenso
auch an unserer Armenpflege noch zu tadeln finden: die Uebernahme der
Verantwortlichkeit für die Folgen freier, individueller Handlungen auf die
Gemeinde und den Staat.
Das Bevölkerungsgesetz in die Form eines kategorischen Imperativs
gebracht, würde etwa so lauten: jede Geburt ist willkommen, für deren Auf¬
erziehung zum sich selbst erhaltenden Wesen eine wirthschaftlich befähigte Person
bereit steht; nachtheilig hingegen, eine Gefahr für das Gemeinwohl sind
Geburten, welche ohne diese Bürgschaft erfolgen. Damit ist die wirthschaft¬
liche Unerfreulichkeit der unehelichen Geburten, an denen überdies noch sittlicher
Makel und der Fluch geringerer Lebenskraft klebt, von selbst gegeben.
Die Frage, wie stark thatsächlich die Bevölkerung eines Landes zunehme,
hat die Wissenschaft bisher besonders in der Form der anzunehmenden Ver¬
doppelungsperiode interessiirt. Mit dieser beschäftigte sich schon der große
Mathematiker Leonhard Euler, ohne noch hinlänglichen Stoff zur Hand zu
haben. Süßmilch nahm rund hundert Jahre, Malthus auf Grund der Er¬
fahrung der Vereinigten Staaten davon nur den vierten Theil an, allerdings
aber mehr wie eine ideale, physiologisch mögliche, nicht als die wirkliche Periode.
Der berühmte belgische Statistiker Quetelet tritt ihm insofern bei. als er die
Tendenz der Volksvermehrung ebenfalls als auf geometrische Progression ge¬
richtet annimmt; aber er fügt, wiewohl ohne 'Beweis, den wesentlich ein¬
schränkenden mathematischen Satz hinzu, daß die Summe der ihr entgegen¬
stehenden Hindernisse zunehme wie das Quadrat ihrer eigenen Geschwindigkeits¬
zunahme. Guillard, der 1855 die „Demographie" als eine von ihm erfundene
neue Wissenschaft proclamirte, will gefunden haben, daß mit wechselnder
Dichtigkeit der Bevölkerung — worunter er ihr Verhältniß zu bewohnter
Fläche versteht, nicht wie E. Horn (Bevölkerungswissenschaftliche Studien aus
Belgien) zur Zahl der Wohnorte — die Vermehrung in gleichem Maße
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