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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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lich zu nützen, wenn es nicht umgekehrt vielmehr ein positives Uebel war. Ein
besoldeter Aufseher war zur Unterstützung der übrigen Armenaufseher da, aber
in Wirklichkeit hing die Armenpflege von dem wöchentlich zusammenkommen¬
den Ortsgericht (dsnok ok Magistrates) ab. Ein Unterstützungsgesuch war
bei diesem der Genehmigung allemal so gut wie sicher. So gingen die
Sachen fort, bis der Kreis des Pauperismus so ziemlich die gesammte Ar-
beiterclasse des Kirchspiels in sich schloß. Selbstvertrauen und Voraussicht
waren in diesem Stande vermöge der Einmischung der öffentlichen Armen¬
pflege erstickt. Hatte ein junger Bursche ein noch jüngeres und ebenso un¬
wissendes Mädchen geehelicht, so war das Erste, daß sie sich an die Armen-
ausseher wegen einer Wohnung wandten, so wie um einen Zuschuß zu Bett
und Möbeln. Wenn dann ein Kind erschien, so hatte der Armenaufseher
wieder die Hebamme zu stellen und einen Beitrag zu den Kosten des Wochen¬
betts. Starb das Kind, so fiel zuverlässig das Begräbniß, blieb es am
Leben, Auferziehung und Unterricht dem Kirchspiel zur Last. So ging es
das ganze Leben hindurch: in jungen und alten, gesunden und kranken,
theuren und wohlfeilen Tagen war immer die öffentliche Armencasse ihre
letzte Zuflucht, auf welche der Arme ein Recht zu haben glaubte, so oft eins
seiner Bedürfnisse nicht aus eigenen Mitteln zu befriedigen war, mochte dies
auch lediglich in Folge von Faulheit, Laster oder Leichtsinn der Fall sein.

Das die Erbschaft, welche Nicholls übernahm, als er im Jahre 1821
zugleich mit drei wackeren Kleinbürgern von Southwell das Armenaufseher¬
amt antrat. Es gelang ihnen, eine Jahresausgabe von 2006 Pfd. Sterling
nacheinander in den nächstfolgenden Jahren auf 1426, 889 und 318 Pf. Se.
zu reduciren, also auf nicht mehr als ein Drittel, bei welchem Betrage es
dann mehr oder minder blieb. Der Grad der Reduction ist, beiläufig be¬
merkt, genau derselbe, welchen man in Elberfeld zwischen 1815 und 1866
durch Steigerung der persönlichen Fürsorge und überhaupt durch radical
reformirte Organisation bei den zerstreut lebenden Armen erreicht hat. In
Southwell wurde das Resultat, wie Sir George Nicholls wörtlich sagt,
dadurch gewonnen, daß "man Sorge trug, den Armen Alles zu gewähren,
was das Gesetz vorschrieb, d. h. was wirklich nothwendig war" (eine für
den Engländer charakteristische Reihenfolge der Begriffe!) "aber auch nichts
mehr, und nichts, was sie verleiten konnte, sich auf das Kirchspiel zu ver¬
lassen, anstatt auf ihre eigenen Anstrengungen." Aber während die Armen¬
aufseher in dieser Richtung arbeiteten, mußten sie bald wahrnehmen, daß die
Richter eine entgegengesetzte Tendenz verfolgten, und daß sie, da diese in
jedem einzelnen Falle Unterstützung vorschreiben konnten, an Händen und
Füßen gebunden waren. "Dies war es", gesteht der begeisterte Anwalt der
Werkhäuser ein, "was sie zuerst an das Werkhaus denken ließ als ein Mittel,


lich zu nützen, wenn es nicht umgekehrt vielmehr ein positives Uebel war. Ein
besoldeter Aufseher war zur Unterstützung der übrigen Armenaufseher da, aber
in Wirklichkeit hing die Armenpflege von dem wöchentlich zusammenkommen¬
den Ortsgericht (dsnok ok Magistrates) ab. Ein Unterstützungsgesuch war
bei diesem der Genehmigung allemal so gut wie sicher. So gingen die
Sachen fort, bis der Kreis des Pauperismus so ziemlich die gesammte Ar-
beiterclasse des Kirchspiels in sich schloß. Selbstvertrauen und Voraussicht
waren in diesem Stande vermöge der Einmischung der öffentlichen Armen¬
pflege erstickt. Hatte ein junger Bursche ein noch jüngeres und ebenso un¬
wissendes Mädchen geehelicht, so war das Erste, daß sie sich an die Armen-
ausseher wegen einer Wohnung wandten, so wie um einen Zuschuß zu Bett
und Möbeln. Wenn dann ein Kind erschien, so hatte der Armenaufseher
wieder die Hebamme zu stellen und einen Beitrag zu den Kosten des Wochen¬
betts. Starb das Kind, so fiel zuverlässig das Begräbniß, blieb es am
Leben, Auferziehung und Unterricht dem Kirchspiel zur Last. So ging es
das ganze Leben hindurch: in jungen und alten, gesunden und kranken,
theuren und wohlfeilen Tagen war immer die öffentliche Armencasse ihre
letzte Zuflucht, auf welche der Arme ein Recht zu haben glaubte, so oft eins
seiner Bedürfnisse nicht aus eigenen Mitteln zu befriedigen war, mochte dies
auch lediglich in Folge von Faulheit, Laster oder Leichtsinn der Fall sein.

Das die Erbschaft, welche Nicholls übernahm, als er im Jahre 1821
zugleich mit drei wackeren Kleinbürgern von Southwell das Armenaufseher¬
amt antrat. Es gelang ihnen, eine Jahresausgabe von 2006 Pfd. Sterling
nacheinander in den nächstfolgenden Jahren auf 1426, 889 und 318 Pf. Se.
zu reduciren, also auf nicht mehr als ein Drittel, bei welchem Betrage es
dann mehr oder minder blieb. Der Grad der Reduction ist, beiläufig be¬
merkt, genau derselbe, welchen man in Elberfeld zwischen 1815 und 1866
durch Steigerung der persönlichen Fürsorge und überhaupt durch radical
reformirte Organisation bei den zerstreut lebenden Armen erreicht hat. In
Southwell wurde das Resultat, wie Sir George Nicholls wörtlich sagt,
dadurch gewonnen, daß „man Sorge trug, den Armen Alles zu gewähren,
was das Gesetz vorschrieb, d. h. was wirklich nothwendig war" (eine für
den Engländer charakteristische Reihenfolge der Begriffe!) „aber auch nichts
mehr, und nichts, was sie verleiten konnte, sich auf das Kirchspiel zu ver¬
lassen, anstatt auf ihre eigenen Anstrengungen." Aber während die Armen¬
aufseher in dieser Richtung arbeiteten, mußten sie bald wahrnehmen, daß die
Richter eine entgegengesetzte Tendenz verfolgten, und daß sie, da diese in
jedem einzelnen Falle Unterstützung vorschreiben konnten, an Händen und
Füßen gebunden waren. „Dies war es", gesteht der begeisterte Anwalt der
Werkhäuser ein, „was sie zuerst an das Werkhaus denken ließ als ein Mittel,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/504>, abgerufen am 01.09.2024.