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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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wir annehmen, es habe sich unter uns geschwächt? Die Formen wechseln, der
Grund, auf dem sie ruhen, dauert fort. Die Form hat gewechselt, aber noch
heute, wie vor fünfzig Jahren, ergreift uns die Wahrheit der Aufsätze des
trefflichen Mösers, überschrieben: die gute seelige Frau und die allerliebste
Braut, welche im ersten Bande seiner patriotischen Phantasien zu lesen stehen.
Ren. hat sich erschreckt vor der bedeutenden Zahl unglücklicher, gestörter und
geschiedener Ehen, welche die vorliegenden Lebensgeschichten deutscher Dich¬
terinnen ergeben: hier spielt kein Zufall; die Frau, welche einmal aus dem
Kreise natürlicher Bestimmung weicht, geräth mit sich selbst in Zwiespalt, sie
kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt. Ein Zeichen tüch¬
tiger Dichter ist unter andern, daß sich ihre Weiber von dem Mit- und
Nachdichter neben ihnen frei halten. Ob Herausgeber von Büchern, wie das
gegenwärtige, nicht auch gewissenhaft erwägen sollten, daß sie die Dichterei
anfachen, und indem sie den Schleier der Anonymität lüften, manches gute
Mädchen, dessen Verse unvorsichtige Verwandten oder Freunde zum Druck
befördert haben, zu neuen eitelen Versuchen reizen? Ueberdies tragen sie Neues
und Unnützes zu dem Schwall und Wust von literarischen, biographischen
Angaben, welche seit Meusel und seinen, beleibten oder schmächtigen, Nach¬
folgern die deutsche Literaturgeschichte so langweilig, fast ungenießbar machen.
Vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo ein gesunderer Sinn der Kritik
und historischen Forschung endlich solchen Aufhäufungen steuert. Für dunkle,
frühe Perioden ist die Jagd nach Namen, Jahreszahlen, Titeln und allen
kleinlichen Umständen am rechten Ort und hat einen Sinn; sie dienen, das
Bild der Vergangenheit zu heften und zu fassen. Heutigestages, wo die
Leichtigkeit, jedes beschriebene Blatt im Druck zu verbreiten, Heere mittel¬
mäßiger und schlechter Bücher zeugt, die auf das Wesen unserer Literatur
nicht den mindesten Einfluß haben, die je eher je besser vergessen werden
dürfen, sollen wir blos das wahrhaft Große ins Auge nehmen. Die Nach¬
welt kann auch nichts anderes aus unserer Zeit gebrauchen. Und dieses
Große sondert sich jetzt von dem Gemeinen gleichsam von selbst, die Literatur
wird immer individueller, während in früheren Jahrhunderten Gutes und
Schlechtes ungetrennter gewesen zu sein scheinen und auch darum ihre Be¬
trachtung schärfer ins Einzelne gehen muß."


Jacob Grimm.


wir annehmen, es habe sich unter uns geschwächt? Die Formen wechseln, der
Grund, auf dem sie ruhen, dauert fort. Die Form hat gewechselt, aber noch
heute, wie vor fünfzig Jahren, ergreift uns die Wahrheit der Aufsätze des
trefflichen Mösers, überschrieben: die gute seelige Frau und die allerliebste
Braut, welche im ersten Bande seiner patriotischen Phantasien zu lesen stehen.
Ren. hat sich erschreckt vor der bedeutenden Zahl unglücklicher, gestörter und
geschiedener Ehen, welche die vorliegenden Lebensgeschichten deutscher Dich¬
terinnen ergeben: hier spielt kein Zufall; die Frau, welche einmal aus dem
Kreise natürlicher Bestimmung weicht, geräth mit sich selbst in Zwiespalt, sie
kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt. Ein Zeichen tüch¬
tiger Dichter ist unter andern, daß sich ihre Weiber von dem Mit- und
Nachdichter neben ihnen frei halten. Ob Herausgeber von Büchern, wie das
gegenwärtige, nicht auch gewissenhaft erwägen sollten, daß sie die Dichterei
anfachen, und indem sie den Schleier der Anonymität lüften, manches gute
Mädchen, dessen Verse unvorsichtige Verwandten oder Freunde zum Druck
befördert haben, zu neuen eitelen Versuchen reizen? Ueberdies tragen sie Neues
und Unnützes zu dem Schwall und Wust von literarischen, biographischen
Angaben, welche seit Meusel und seinen, beleibten oder schmächtigen, Nach¬
folgern die deutsche Literaturgeschichte so langweilig, fast ungenießbar machen.
Vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo ein gesunderer Sinn der Kritik
und historischen Forschung endlich solchen Aufhäufungen steuert. Für dunkle,
frühe Perioden ist die Jagd nach Namen, Jahreszahlen, Titeln und allen
kleinlichen Umständen am rechten Ort und hat einen Sinn; sie dienen, das
Bild der Vergangenheit zu heften und zu fassen. Heutigestages, wo die
Leichtigkeit, jedes beschriebene Blatt im Druck zu verbreiten, Heere mittel¬
mäßiger und schlechter Bücher zeugt, die auf das Wesen unserer Literatur
nicht den mindesten Einfluß haben, die je eher je besser vergessen werden
dürfen, sollen wir blos das wahrhaft Große ins Auge nehmen. Die Nach¬
welt kann auch nichts anderes aus unserer Zeit gebrauchen. Und dieses
Große sondert sich jetzt von dem Gemeinen gleichsam von selbst, die Literatur
wird immer individueller, während in früheren Jahrhunderten Gutes und
Schlechtes ungetrennter gewesen zu sein scheinen und auch darum ihre Be¬
trachtung schärfer ins Einzelne gehen muß."


Jacob Grimm.


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[0472] wir annehmen, es habe sich unter uns geschwächt? Die Formen wechseln, der Grund, auf dem sie ruhen, dauert fort. Die Form hat gewechselt, aber noch heute, wie vor fünfzig Jahren, ergreift uns die Wahrheit der Aufsätze des trefflichen Mösers, überschrieben: die gute seelige Frau und die allerliebste Braut, welche im ersten Bande seiner patriotischen Phantasien zu lesen stehen. Ren. hat sich erschreckt vor der bedeutenden Zahl unglücklicher, gestörter und geschiedener Ehen, welche die vorliegenden Lebensgeschichten deutscher Dich¬ terinnen ergeben: hier spielt kein Zufall; die Frau, welche einmal aus dem Kreise natürlicher Bestimmung weicht, geräth mit sich selbst in Zwiespalt, sie kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt. Ein Zeichen tüch¬ tiger Dichter ist unter andern, daß sich ihre Weiber von dem Mit- und Nachdichter neben ihnen frei halten. Ob Herausgeber von Büchern, wie das gegenwärtige, nicht auch gewissenhaft erwägen sollten, daß sie die Dichterei anfachen, und indem sie den Schleier der Anonymität lüften, manches gute Mädchen, dessen Verse unvorsichtige Verwandten oder Freunde zum Druck befördert haben, zu neuen eitelen Versuchen reizen? Ueberdies tragen sie Neues und Unnützes zu dem Schwall und Wust von literarischen, biographischen Angaben, welche seit Meusel und seinen, beleibten oder schmächtigen, Nach¬ folgern die deutsche Literaturgeschichte so langweilig, fast ungenießbar machen. Vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo ein gesunderer Sinn der Kritik und historischen Forschung endlich solchen Aufhäufungen steuert. Für dunkle, frühe Perioden ist die Jagd nach Namen, Jahreszahlen, Titeln und allen kleinlichen Umständen am rechten Ort und hat einen Sinn; sie dienen, das Bild der Vergangenheit zu heften und zu fassen. Heutigestages, wo die Leichtigkeit, jedes beschriebene Blatt im Druck zu verbreiten, Heere mittel¬ mäßiger und schlechter Bücher zeugt, die auf das Wesen unserer Literatur nicht den mindesten Einfluß haben, die je eher je besser vergessen werden dürfen, sollen wir blos das wahrhaft Große ins Auge nehmen. Die Nach¬ welt kann auch nichts anderes aus unserer Zeit gebrauchen. Und dieses Große sondert sich jetzt von dem Gemeinen gleichsam von selbst, die Literatur wird immer individueller, während in früheren Jahrhunderten Gutes und Schlechtes ungetrennter gewesen zu sein scheinen und auch darum ihre Be¬ trachtung schärfer ins Einzelne gehen muß." Jacob Grimm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/472>, abgerufen am 27.07.2024.