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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Auch ist nichts dagegen einzuwenden, sondern es versteht sich vielmehr
für jeden wohlgearteten Menschen von selbst, wenn das Gemüth sich mit
vollster Kraft an das Heimatland anklammert, aber der Verstand soll sich
mit solchen Phrasen nicht abspeisen lassen. Doch gehört dazu, daß er das
nöthige Material habe, um sich ein Urtheil zu bilden. Gewährt ihm dies
eine gründliche geographische Belehrung über Deutschland, so würde er sich
sagen müssen, daß ungefähr das Gegentheil von allen diesen Sätzen der
Wahrheit entspricht, daß Deutschland in seinen physikalisch-geographischen Be¬
dingungen unter allen europäischen Culturländern nicht blos, sondern über¬
haupt unter allen Gliedern Europas fast am ungünstigsten ausgestattet ist. Eine
überaus wichtige Thatsache sowohl zum Verständniß der bisherigen deutschen
Geschichts- und Volksentwickelung, wie noch mehr um darnach die Ziele und
Maße für die Gestaltung des deutschen Volkslebens in Staat. Handel, In¬
dustrie, Production zu bezeichnen, welche die Natur selbst als möglich und
erreichbar aufgestellt hat. Eine solche Selbstkenntniß scheint uns für das
Allgemeine oder die Beziehung des Einzelnen zu dem Allgemeinen, die wir
Theilnahme am öffentlichen Leben nennen und ohne die kein Gebildeter wirk¬
lich als solcher sich geltend zu machen vermag, gerade dieselbe Bedeutung zu
besitzen, wie eine klare Uebersicht über den eigenen Vermögensstand Ein¬
nahme und Ausgabe sür den Privatmann. Illusionen sind hier wie dort
gleich verhängnißvoll, das Bewußtsein, daß man arm oder mit geringen
äußeren Hilfsmitteln ausgestattet ist, enthält weder etwas Schmachvolles, noch
auch etwas niederdrückendes, sondern das Gegentheil von beiden, sobald sich
damit der Wille und die Kraft verbindet, diese Mängel der Natur durch
solide Arbeit auszugleichen. Gerade deshalb ist die bisherige Geschichte des
deutschen Volkes so eminent ehrenvoll für dasselbe, weil sie darthut, wie die
Entfaltung sittlicher und intellectueller Tüchtigkeit zu Resultaten führen kann,
die anderswo bei unendlich günstigerer Ausstattung nicht einmal.annähernd
erreicht worden. Und es liegt zugleich der mächtigste Sporn für jeden Ein¬
zelnen darin, insofern er sich als lebendiges Atom im deutschen Volkskörper
fühlt, hinter den Leistungen der Vergangenheit nicht zurückzubleiben, son¬
dern nach wie vor das, was die Natur versagt hat, durch eine höhere
Natur, die sittliche und intellectuelle Cultur zu ersetzen. -- Daß wir
hier uns auf die Ausführung der oben ausgesprochenen Sätze einlassen, wird
uns Niemand zumuthen; nur um an allbekannten oder vor Jedermanns
Blicken offen daliegenden, aber gewöhnlich gedankenlos hingenommenen
Thatsachen wenigstens einige Andeutungen zu geben, sei daran erinnert, wie
ungünstig die maritime Stellung unseres Vaterlandes ist, wie in jeder Be¬
ziehung dürftig seine Küstenentwickelung im Vergleich zu seiner continentalen
Masse; wie wenig geeignet für den inneren Verkehr sowohl seine orographisclM


Auch ist nichts dagegen einzuwenden, sondern es versteht sich vielmehr
für jeden wohlgearteten Menschen von selbst, wenn das Gemüth sich mit
vollster Kraft an das Heimatland anklammert, aber der Verstand soll sich
mit solchen Phrasen nicht abspeisen lassen. Doch gehört dazu, daß er das
nöthige Material habe, um sich ein Urtheil zu bilden. Gewährt ihm dies
eine gründliche geographische Belehrung über Deutschland, so würde er sich
sagen müssen, daß ungefähr das Gegentheil von allen diesen Sätzen der
Wahrheit entspricht, daß Deutschland in seinen physikalisch-geographischen Be¬
dingungen unter allen europäischen Culturländern nicht blos, sondern über¬
haupt unter allen Gliedern Europas fast am ungünstigsten ausgestattet ist. Eine
überaus wichtige Thatsache sowohl zum Verständniß der bisherigen deutschen
Geschichts- und Volksentwickelung, wie noch mehr um darnach die Ziele und
Maße für die Gestaltung des deutschen Volkslebens in Staat. Handel, In¬
dustrie, Production zu bezeichnen, welche die Natur selbst als möglich und
erreichbar aufgestellt hat. Eine solche Selbstkenntniß scheint uns für das
Allgemeine oder die Beziehung des Einzelnen zu dem Allgemeinen, die wir
Theilnahme am öffentlichen Leben nennen und ohne die kein Gebildeter wirk¬
lich als solcher sich geltend zu machen vermag, gerade dieselbe Bedeutung zu
besitzen, wie eine klare Uebersicht über den eigenen Vermögensstand Ein¬
nahme und Ausgabe sür den Privatmann. Illusionen sind hier wie dort
gleich verhängnißvoll, das Bewußtsein, daß man arm oder mit geringen
äußeren Hilfsmitteln ausgestattet ist, enthält weder etwas Schmachvolles, noch
auch etwas niederdrückendes, sondern das Gegentheil von beiden, sobald sich
damit der Wille und die Kraft verbindet, diese Mängel der Natur durch
solide Arbeit auszugleichen. Gerade deshalb ist die bisherige Geschichte des
deutschen Volkes so eminent ehrenvoll für dasselbe, weil sie darthut, wie die
Entfaltung sittlicher und intellectueller Tüchtigkeit zu Resultaten führen kann,
die anderswo bei unendlich günstigerer Ausstattung nicht einmal.annähernd
erreicht worden. Und es liegt zugleich der mächtigste Sporn für jeden Ein¬
zelnen darin, insofern er sich als lebendiges Atom im deutschen Volkskörper
fühlt, hinter den Leistungen der Vergangenheit nicht zurückzubleiben, son¬
dern nach wie vor das, was die Natur versagt hat, durch eine höhere
Natur, die sittliche und intellectuelle Cultur zu ersetzen. — Daß wir
hier uns auf die Ausführung der oben ausgesprochenen Sätze einlassen, wird
uns Niemand zumuthen; nur um an allbekannten oder vor Jedermanns
Blicken offen daliegenden, aber gewöhnlich gedankenlos hingenommenen
Thatsachen wenigstens einige Andeutungen zu geben, sei daran erinnert, wie
ungünstig die maritime Stellung unseres Vaterlandes ist, wie in jeder Be¬
ziehung dürftig seine Küstenentwickelung im Vergleich zu seiner continentalen
Masse; wie wenig geeignet für den inneren Verkehr sowohl seine orographisclM


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/436>, abgerufen am 28.07.2024.