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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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daß diese Thätigkeit des Volkes sich in neuer Zeit fast nur im Kriegsliede
äußert, wenn ein kräftiger Corpsgeist die Massen beseelt und die mächtigsten
Gefühle gemeinsam durchlebt werden. Der Werth, welchen solche Poesien
für uns haben, ist ein anderer geworden. Noch erfreut zuweilen eine wahr¬
haft poetische Auffassung, kräftiger Ausdruck, ein schönes Bild; aber mehr
als ein zufälliger poetischer Reiz fesselt uns die Eigenthümlichkeit des Aus¬
drucks, welche wir die volksmäßige nennen, und wir betrachten kritisch, was
daran jüngst vergangener Zeitbildung der Sprache und des Gemüths ange¬
hört und was eine uralte, immer wiederkehrende Eigenheit der deutschen Em¬
pfindung ist. Immer müssen wir daran denken, daß diese volksmäßigen Reime
in dem vornehmen Buche getrockneten Blüthen gleichen und daß Redewen¬
dungen, die uns allzuderb oder unbehilflich erscheinen, eine sehr eigenthüm¬
liche Wirkung dann ausüben, wenn sie in Stunden kriegerischer Aufregung
von tausendstimmigem Chor erschallen. Die ungeheure Wirkung, welche
heißer Haß und patriotischer Sinn der Lieder in solchen Momenten auf die
Stimmung eines Heeres ausüben, vermag man in der Bücherstube nur schwer
zu schätzen. Der Soldat wird vor der Schlacht und nach dem Siege, in der
Ermattung des Marsches und bei den Entbehrungen des Bivouacs durch die
einfachen Worte und Weisen seiner Lieder so begeistert, daß sich zur Zeit
wenige Wirkungen der edelsten Kunstpoesie mit der Gewalt seiner kleinen
Situationslieder vergleichen können.

Unter den Herausgebern historischer Volkslieder waren es zuerst v. Soltau
und Hildebrand, welche auf die modernen Soldatenlieder aufmerksam machten;
die oben angekündigte Sammlung ist der neuste werthvolle Beitrag dafür.
Der Herausgeber, welcher einen Theil seines Lebens auf das Sammeln ähn¬
licher Volksüberlieferungen gewandt hat. ist in weiteren Kreisen rühmlich
bekannt durch sein Werk "Fränkische Volkslieder mit ihren zweistimmigen
Weisen" (1833. 2 Theile). Schon jene frühere Sammlung hatte das Ver¬
dienst, daß sie aus dem stillen Quell des Volksgemüths tiefer und reichlicher
geschöpft war, als viele ähnliche Sammlungen; sie brachte zumal in den
geistlichen Volksliedern der katholischen Maingegend eine Fülle von eigen¬
artigem, ganz unbekanntem Liederinhalt zu Tage. -- Das neue Werk, von
der Verlagshandlung sehr hübsch ausgestattet, umsaßt die preußische Lager-
^°°sie seit der Schlacht von Fehrbellin: was in den Heeren Friedrich des
in d ^ gesungen wurde, in den Rhein-Campagnen Friedrich Wilhelm II.,
" der Campagne von 1806, in den Freiheitskriegen, in Schleswig Holstein,
^ böhmischen Quartier des Jahres 1866.

. ^ diese gute Sammlung eingehend mustert, wird dem Herausgeber
>ur ferne mühevolle Arbeit recht aufrichtig dankbar sein. Was er sorgfältig
zusammengestellt hat von den Erinnerungen alter Veteranen, aus vergilbten
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daß diese Thätigkeit des Volkes sich in neuer Zeit fast nur im Kriegsliede
äußert, wenn ein kräftiger Corpsgeist die Massen beseelt und die mächtigsten
Gefühle gemeinsam durchlebt werden. Der Werth, welchen solche Poesien
für uns haben, ist ein anderer geworden. Noch erfreut zuweilen eine wahr¬
haft poetische Auffassung, kräftiger Ausdruck, ein schönes Bild; aber mehr
als ein zufälliger poetischer Reiz fesselt uns die Eigenthümlichkeit des Aus¬
drucks, welche wir die volksmäßige nennen, und wir betrachten kritisch, was
daran jüngst vergangener Zeitbildung der Sprache und des Gemüths ange¬
hört und was eine uralte, immer wiederkehrende Eigenheit der deutschen Em¬
pfindung ist. Immer müssen wir daran denken, daß diese volksmäßigen Reime
in dem vornehmen Buche getrockneten Blüthen gleichen und daß Redewen¬
dungen, die uns allzuderb oder unbehilflich erscheinen, eine sehr eigenthüm¬
liche Wirkung dann ausüben, wenn sie in Stunden kriegerischer Aufregung
von tausendstimmigem Chor erschallen. Die ungeheure Wirkung, welche
heißer Haß und patriotischer Sinn der Lieder in solchen Momenten auf die
Stimmung eines Heeres ausüben, vermag man in der Bücherstube nur schwer
zu schätzen. Der Soldat wird vor der Schlacht und nach dem Siege, in der
Ermattung des Marsches und bei den Entbehrungen des Bivouacs durch die
einfachen Worte und Weisen seiner Lieder so begeistert, daß sich zur Zeit
wenige Wirkungen der edelsten Kunstpoesie mit der Gewalt seiner kleinen
Situationslieder vergleichen können.

Unter den Herausgebern historischer Volkslieder waren es zuerst v. Soltau
und Hildebrand, welche auf die modernen Soldatenlieder aufmerksam machten;
die oben angekündigte Sammlung ist der neuste werthvolle Beitrag dafür.
Der Herausgeber, welcher einen Theil seines Lebens auf das Sammeln ähn¬
licher Volksüberlieferungen gewandt hat. ist in weiteren Kreisen rühmlich
bekannt durch sein Werk „Fränkische Volkslieder mit ihren zweistimmigen
Weisen" (1833. 2 Theile). Schon jene frühere Sammlung hatte das Ver¬
dienst, daß sie aus dem stillen Quell des Volksgemüths tiefer und reichlicher
geschöpft war, als viele ähnliche Sammlungen; sie brachte zumal in den
geistlichen Volksliedern der katholischen Maingegend eine Fülle von eigen¬
artigem, ganz unbekanntem Liederinhalt zu Tage. — Das neue Werk, von
der Verlagshandlung sehr hübsch ausgestattet, umsaßt die preußische Lager-
^°°sie seit der Schlacht von Fehrbellin: was in den Heeren Friedrich des
in d ^ gesungen wurde, in den Rhein-Campagnen Friedrich Wilhelm II.,
" der Campagne von 1806, in den Freiheitskriegen, in Schleswig Holstein,
^ böhmischen Quartier des Jahres 1866.

. ^ diese gute Sammlung eingehend mustert, wird dem Herausgeber
>ur ferne mühevolle Arbeit recht aufrichtig dankbar sein. Was er sorgfältig
zusammengestellt hat von den Erinnerungen alter Veteranen, aus vergilbten
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/41>, abgerufen am 27.07.2024.