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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Die politische Lage.

Noch dauert im norddeutschen Bunde die gehobene Stimmung, welche
die große Woche des Reichstages zurückließ. Die letzte Session der hundert
Tage vor neuen Wahlen war die schwierigste von allen; zu den wichtigsten
Gesetzesfragen kam die Uebermüdung als unvermeidliche Folge dreijähriger
gehäufter Arbeit, und in Wahrheit hatte die hohe Versammlung durch einige
Wochen ein recht abgespanntes und unsicheres Aussehen. Aber die Tüchtig-
k-it unserer Abgeordneten und die treibende Kraft des neuen Bundes halsen
ZU einem guten Ende. Endlich trägt die Elbe ihre Schiffe befreit von un¬
erträglichen Zöllen, die Subvention der Gotthardbahn bereitet eine neue
directe Verbindung mit Italien durch neutrales Gebiet, das Gesetz über
den Unterstützungswohnsitz sichert den arbeitenden Classen im Bunde das
Recht der Freizügigkeit, das Gesetz über das literarische Eigenthum regelt
sicher den geschäftlichen Verkehr der wichtigsten Hilfsmittel für Wissenschaft,
Bildung und geistigen Genuß, das Strafgesetzbuch begründet gemeinsames
Recht für den gesammten Bund. Möchten auch diejenigen unserer Freunde,
welche bedauern, daß nicht alle ihre Forderungen in den neuen Gesetzen er-
füllt wurden, mit derselben Befriedigung auf die Arbeiten der Session zurück-
sehen, welche in der Nation vorherrschende Stimmung ist. Es gehört zu
den Leiden jeder erhabenen Erdenstellung, auch zu den Uebelständen einer
gesetzgebenden Versammlung, welche in angestrengter Thätigkeit und durch
Parteieifer ihre segensreiche Wirkung ausübt, daß sich um die Häupter ihrer
Angehörigen eine feine Nebelschicht lagert, der Nimbus sen^torins, die Reichs¬
tagswolke. Er schließt ab von der Außenwelt, mindert das unbefangene Urtheil
über die Wirklichkeit und behängt in einem imponirenden Kreise von Vorstel-
lungen und Ideen, von Eifer, Liebe und Haß; kleine Erfolge und Gefahren
der Nähe werden dadurch leicht vergrößert, das Entfernte, und seich noch so
bedeutsam, verschwindet dem Blicke. Mögen die Abgeordneten sich jetzt der
wohlverdienten Muße mit freiem Urtheil erfreuen. -- Auch die Aufmerksamkeit
der Nation wendet sich von der Sorge für den Staat auf die eigene Flur
und den Zug der Wolken darüber. Die alte Arbeit des Ackers und der
Werkstatt tritt in den Vordergrund des Interesses, der Landmann späht
nach Regen für seine Saaten, der Kaufmann und Fabrikant sorgen um die
Ernte, die ihrer Sommerarbeit zu gutem Absatz helfen soll, und der Poli¬
tiker wünscht nicht weniger eifrig die Gunst der Elemente für die Arbeit
der Menschen, damit der nächste Winter ein arveitssrohes und zufriedenes
Volk finde.


Die politische Lage.

Noch dauert im norddeutschen Bunde die gehobene Stimmung, welche
die große Woche des Reichstages zurückließ. Die letzte Session der hundert
Tage vor neuen Wahlen war die schwierigste von allen; zu den wichtigsten
Gesetzesfragen kam die Uebermüdung als unvermeidliche Folge dreijähriger
gehäufter Arbeit, und in Wahrheit hatte die hohe Versammlung durch einige
Wochen ein recht abgespanntes und unsicheres Aussehen. Aber die Tüchtig-
k-it unserer Abgeordneten und die treibende Kraft des neuen Bundes halsen
ZU einem guten Ende. Endlich trägt die Elbe ihre Schiffe befreit von un¬
erträglichen Zöllen, die Subvention der Gotthardbahn bereitet eine neue
directe Verbindung mit Italien durch neutrales Gebiet, das Gesetz über
den Unterstützungswohnsitz sichert den arbeitenden Classen im Bunde das
Recht der Freizügigkeit, das Gesetz über das literarische Eigenthum regelt
sicher den geschäftlichen Verkehr der wichtigsten Hilfsmittel für Wissenschaft,
Bildung und geistigen Genuß, das Strafgesetzbuch begründet gemeinsames
Recht für den gesammten Bund. Möchten auch diejenigen unserer Freunde,
welche bedauern, daß nicht alle ihre Forderungen in den neuen Gesetzen er-
füllt wurden, mit derselben Befriedigung auf die Arbeiten der Session zurück-
sehen, welche in der Nation vorherrschende Stimmung ist. Es gehört zu
den Leiden jeder erhabenen Erdenstellung, auch zu den Uebelständen einer
gesetzgebenden Versammlung, welche in angestrengter Thätigkeit und durch
Parteieifer ihre segensreiche Wirkung ausübt, daß sich um die Häupter ihrer
Angehörigen eine feine Nebelschicht lagert, der Nimbus sen^torins, die Reichs¬
tagswolke. Er schließt ab von der Außenwelt, mindert das unbefangene Urtheil
über die Wirklichkeit und behängt in einem imponirenden Kreise von Vorstel-
lungen und Ideen, von Eifer, Liebe und Haß; kleine Erfolge und Gefahren
der Nähe werden dadurch leicht vergrößert, das Entfernte, und seich noch so
bedeutsam, verschwindet dem Blicke. Mögen die Abgeordneten sich jetzt der
wohlverdienten Muße mit freiem Urtheil erfreuen. — Auch die Aufmerksamkeit
der Nation wendet sich von der Sorge für den Staat auf die eigene Flur
und den Zug der Wolken darüber. Die alte Arbeit des Ackers und der
Werkstatt tritt in den Vordergrund des Interesses, der Landmann späht
nach Regen für seine Saaten, der Kaufmann und Fabrikant sorgen um die
Ernte, die ihrer Sommerarbeit zu gutem Absatz helfen soll, und der Poli¬
tiker wünscht nicht weniger eifrig die Gunst der Elemente für die Arbeit
der Menschen, damit der nächste Winter ein arveitssrohes und zufriedenes
Volk finde.


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[0405] Die politische Lage. Noch dauert im norddeutschen Bunde die gehobene Stimmung, welche die große Woche des Reichstages zurückließ. Die letzte Session der hundert Tage vor neuen Wahlen war die schwierigste von allen; zu den wichtigsten Gesetzesfragen kam die Uebermüdung als unvermeidliche Folge dreijähriger gehäufter Arbeit, und in Wahrheit hatte die hohe Versammlung durch einige Wochen ein recht abgespanntes und unsicheres Aussehen. Aber die Tüchtig- k-it unserer Abgeordneten und die treibende Kraft des neuen Bundes halsen ZU einem guten Ende. Endlich trägt die Elbe ihre Schiffe befreit von un¬ erträglichen Zöllen, die Subvention der Gotthardbahn bereitet eine neue directe Verbindung mit Italien durch neutrales Gebiet, das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz sichert den arbeitenden Classen im Bunde das Recht der Freizügigkeit, das Gesetz über das literarische Eigenthum regelt sicher den geschäftlichen Verkehr der wichtigsten Hilfsmittel für Wissenschaft, Bildung und geistigen Genuß, das Strafgesetzbuch begründet gemeinsames Recht für den gesammten Bund. Möchten auch diejenigen unserer Freunde, welche bedauern, daß nicht alle ihre Forderungen in den neuen Gesetzen er- füllt wurden, mit derselben Befriedigung auf die Arbeiten der Session zurück- sehen, welche in der Nation vorherrschende Stimmung ist. Es gehört zu den Leiden jeder erhabenen Erdenstellung, auch zu den Uebelständen einer gesetzgebenden Versammlung, welche in angestrengter Thätigkeit und durch Parteieifer ihre segensreiche Wirkung ausübt, daß sich um die Häupter ihrer Angehörigen eine feine Nebelschicht lagert, der Nimbus sen^torins, die Reichs¬ tagswolke. Er schließt ab von der Außenwelt, mindert das unbefangene Urtheil über die Wirklichkeit und behängt in einem imponirenden Kreise von Vorstel- lungen und Ideen, von Eifer, Liebe und Haß; kleine Erfolge und Gefahren der Nähe werden dadurch leicht vergrößert, das Entfernte, und seich noch so bedeutsam, verschwindet dem Blicke. Mögen die Abgeordneten sich jetzt der wohlverdienten Muße mit freiem Urtheil erfreuen. — Auch die Aufmerksamkeit der Nation wendet sich von der Sorge für den Staat auf die eigene Flur und den Zug der Wolken darüber. Die alte Arbeit des Ackers und der Werkstatt tritt in den Vordergrund des Interesses, der Landmann späht nach Regen für seine Saaten, der Kaufmann und Fabrikant sorgen um die Ernte, die ihrer Sommerarbeit zu gutem Absatz helfen soll, und der Poli¬ tiker wünscht nicht weniger eifrig die Gunst der Elemente für die Arbeit der Menschen, damit der nächste Winter ein arveitssrohes und zufriedenes Volk finde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/405>, abgerufen am 27.07.2024.