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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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ersten Abstimmung für jede größere Partei mit gutem Grunde zugleich eine
Macht- und Ehrenfrage, bei welcher es sich nicht mehr allein um die Sache
selbst, sondern zugleich um die ganze Reihe der anderen schwebenden Fragen
handelt. Das weiß auch die Regierung, sie beginnt zu überlegen, welche
Zugeständnisse sie einer einflußreichen Partei machen kann, um dieselbe einiger¬
maßen zu befriedigen.

Bei der zweiten Lesung platzen die Gegensätze stark auf einander, alle
Gründe werden beredsam in das Feld gestellt, die streitigen Punkte scharf
hervorgehoben. Von da tritt die gewissermaßen diplomatische Thätigkeit der
Parteiführer in den Vordergrund. Regierung und Opposition haben sich be¬
müht, den Gegnern zu imponiren, jetzt arbeitet die schwierigere Sorge, wie
weit darf man Zugeständnisse machen. Und auch bei dieser Erwägung wird
von den opponirenden Fractionen nur ausnahmsweise blos vom Standpunkt
der Streitfrage beschlossen, überall mischen sich bewußt und unbewußt die
Rücksichten auf die Zweckmäßigkeit des Beharrens und auf die eigene Autorität
ein. Ist dies eine Beschränkung der Unbefangenheit, der ruhigen und sach¬
gemäßen Würdigung des vorliegenden Gesetzentwurfs? Sie ist doch unver¬
meidlich, sie hat. so lange gesetzgebende Versammlungen bestehen, sich überall
geltend gemacht, ja sie ist eine Bedingung für das Gedeihen des Verfassungs¬
lebens. Und die schwerste, zuweilen kaum lösbare Aufgabe der kämpfenden
Gegensätze ist immer, bei diesem Streit der wichtigsten egoistischen Interessen
zugleich das Gewissen zu wahren, d. h. die objective Betrachtung der ein¬
zelnen Streitfrage nicht zusehr aus den Augen zu verlieren.

In dem Kampf um die Todesstrafe wurde das Beharren der Regierung
in Wahrheit durch ihre Auffassung der eigenen Autorität und Macht be¬
stimmt, und durch Motive, welche ganz wo anders lagen, als in der Ueber¬
zeugung von der Nothwendigkeit des Fallbeils. Ebenso konnten die Preußen,
welche zuletzt gegen die Todesstrafe stimmten, sich nicht verhehlen, daß ihre
Opposition gegen den Gesetzentwurf, nachdem die Hartnäckigkeit der Regierung
als unüberwindlich erkannt war, nicht der Abschaffung sondern der Anwen¬
dung des Fallbeils zu Gute kommen würde. Die Sachsen und Oldenburger
freilich behielten, wenn das Gesetz nicht zu Stande kam, ihr heimisches Straf-
recht, welches die Todesstrafe ausschließt, die Preußen aber conservirten dann
ebenfalls ihr Landesgesetz, welches der Todesstrafe eine weit größere Aus¬
dehnung gibt. Sie fielen also zurück in einen Zustand, der nach ihrer
eigenen Auffassung weit weniger vortheilhaft war, als der, welchen das
Bundesgesetz in Aussicht stellt. Sie wußten auch recht gut, daß ge-
ringe Aussicht war, in den nächsten Sessionen eine Aenderung dieser Be¬
stimmung in neuer Gesetzvorlage zu erwirken, endlich, daß ihre Parteistellung
zu dieser Frage ihnen in dem größten Theile Preußens nicht einmal die


ersten Abstimmung für jede größere Partei mit gutem Grunde zugleich eine
Macht- und Ehrenfrage, bei welcher es sich nicht mehr allein um die Sache
selbst, sondern zugleich um die ganze Reihe der anderen schwebenden Fragen
handelt. Das weiß auch die Regierung, sie beginnt zu überlegen, welche
Zugeständnisse sie einer einflußreichen Partei machen kann, um dieselbe einiger¬
maßen zu befriedigen.

Bei der zweiten Lesung platzen die Gegensätze stark auf einander, alle
Gründe werden beredsam in das Feld gestellt, die streitigen Punkte scharf
hervorgehoben. Von da tritt die gewissermaßen diplomatische Thätigkeit der
Parteiführer in den Vordergrund. Regierung und Opposition haben sich be¬
müht, den Gegnern zu imponiren, jetzt arbeitet die schwierigere Sorge, wie
weit darf man Zugeständnisse machen. Und auch bei dieser Erwägung wird
von den opponirenden Fractionen nur ausnahmsweise blos vom Standpunkt
der Streitfrage beschlossen, überall mischen sich bewußt und unbewußt die
Rücksichten auf die Zweckmäßigkeit des Beharrens und auf die eigene Autorität
ein. Ist dies eine Beschränkung der Unbefangenheit, der ruhigen und sach¬
gemäßen Würdigung des vorliegenden Gesetzentwurfs? Sie ist doch unver¬
meidlich, sie hat. so lange gesetzgebende Versammlungen bestehen, sich überall
geltend gemacht, ja sie ist eine Bedingung für das Gedeihen des Verfassungs¬
lebens. Und die schwerste, zuweilen kaum lösbare Aufgabe der kämpfenden
Gegensätze ist immer, bei diesem Streit der wichtigsten egoistischen Interessen
zugleich das Gewissen zu wahren, d. h. die objective Betrachtung der ein¬
zelnen Streitfrage nicht zusehr aus den Augen zu verlieren.

In dem Kampf um die Todesstrafe wurde das Beharren der Regierung
in Wahrheit durch ihre Auffassung der eigenen Autorität und Macht be¬
stimmt, und durch Motive, welche ganz wo anders lagen, als in der Ueber¬
zeugung von der Nothwendigkeit des Fallbeils. Ebenso konnten die Preußen,
welche zuletzt gegen die Todesstrafe stimmten, sich nicht verhehlen, daß ihre
Opposition gegen den Gesetzentwurf, nachdem die Hartnäckigkeit der Regierung
als unüberwindlich erkannt war, nicht der Abschaffung sondern der Anwen¬
dung des Fallbeils zu Gute kommen würde. Die Sachsen und Oldenburger
freilich behielten, wenn das Gesetz nicht zu Stande kam, ihr heimisches Straf-
recht, welches die Todesstrafe ausschließt, die Preußen aber conservirten dann
ebenfalls ihr Landesgesetz, welches der Todesstrafe eine weit größere Aus¬
dehnung gibt. Sie fielen also zurück in einen Zustand, der nach ihrer
eigenen Auffassung weit weniger vortheilhaft war, als der, welchen das
Bundesgesetz in Aussicht stellt. Sie wußten auch recht gut, daß ge-
ringe Aussicht war, in den nächsten Sessionen eine Aenderung dieser Be¬
stimmung in neuer Gesetzvorlage zu erwirken, endlich, daß ihre Parteistellung
zu dieser Frage ihnen in dem größten Theile Preußens nicht einmal die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/331>, abgerufen am 18.12.2024.