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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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rathes verschoben, um sie der neugewählten Behörde zu endgültiger Entschei¬
dung zu überlassen. Letztere ist bis zur Stunde noch nicht erfolgt.

Ungefähr gleichzeitig mit Zürich war auch im Canton Graubünden
nach mehrjähriger Vorberathung dieselbe Frage in der Synode aufge¬
taucht (1866) und die freier denkenden Geistlichen hatten gegenüber dem
zahm Widerstande der Rechtgläubigen wenigstens ihre eigene Freiheit und
Ehrlichkeit in Betreff des apostol, Symbolums zu wahren gewußt. Auch im
Canton Bern griff die nämliche Bewegung Platz, und die aus Geistlichen
und Laien gemischte Synode des Cantons Aargau behandelte im Septem¬
ber vorigen Jahres denselben Gegenstand unter lebhaftester Theilnahme einer
zahlreichen Zuhörerschaft. Es handelte sich um den Antrag, daß im Interesse
der Wahrhaftigkeit das sogenannte apostolische Glaubensberenntniß aus der
Taufhandlung zu entfernen sei. Der Beschluß lautete allgemeiner dahin, die
Liturgie sei in freierem Geiste einer Revision zu unterwerfen. In Genf
petitionirten erst jüngst eine Anzahl Bürger für Abschaffung des apostolischen
Symbolums.

Neben diesen dogmatischen Bestrebungen laufen bekanntlich die auf eine
freiere Kirchenverfassung, auf die Wahl der Geistlichen durch das Volk der
Gemeinden, auf stärkere Vertretung des Laienstandes in den kirchlichen Be¬
hörden, ja auf gänzliche Trennung von Staat und Kirche u. s. w. Ein
Theil dieser Wünsche ist in der neuen Verfassung des Cantons Zürich, wenn
auch weniger entschieden, als die Demokraten ursprünglich hatten hoffen
lassen, in Erfüllung gegangen. Dieselbe gewährleistet die Glaubens-, Cultus-
und Lehrfreiheit und macht die bürgerlichen Rechte und Pflichten unabhängig
vom Glaubensbekenntniß; sie läßt die evangelische Landeskirche so wie die
übrigen kirchlichen Genossenschaften "ihre Cultusverhältnisse selbständig, jedoch
unter der Oberaufsicht des Staates ordnen" und behält diesem die Organi¬
sation der ersteren, jedoch mit Ausschluß jedes Gewissenszwanges, "durch
das Gesetz" vor, wofür der Staat im Allgemeinen die bisherigen Leistungen
für die kirchlichen Bedürfnisse auch fürderhin übernimmt. Die Kirchgemein¬
den wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der Wahlfähigen selbst, die Ge¬
wählten unterliegen alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl und der Staat
besoldet dieselben. Alle diese Bestimmungen gelten sowohl für die evangeli¬
schen als für die katholischen Gemeinden.

Der Canton Thurgau ahmte das benachbarte und stammverwandte
Zürich in seiner Verfassungsrevision in manchen Punkten nach, ging aber in
kirchlicher Beziehung noch weiter. Die neue Verfassung verordnet zwei Sy¬
noden, eine evangelische und eine katholische, beide gemischt aus Geistlichen
und Laien, von denen jeder die Aufgabe zugetheilt wurde, für ihre Kirche
eine neue Verfassung zu entwerfen. Diese Entwürfe sind bereits so weit ge-


rathes verschoben, um sie der neugewählten Behörde zu endgültiger Entschei¬
dung zu überlassen. Letztere ist bis zur Stunde noch nicht erfolgt.

Ungefähr gleichzeitig mit Zürich war auch im Canton Graubünden
nach mehrjähriger Vorberathung dieselbe Frage in der Synode aufge¬
taucht (1866) und die freier denkenden Geistlichen hatten gegenüber dem
zahm Widerstande der Rechtgläubigen wenigstens ihre eigene Freiheit und
Ehrlichkeit in Betreff des apostol, Symbolums zu wahren gewußt. Auch im
Canton Bern griff die nämliche Bewegung Platz, und die aus Geistlichen
und Laien gemischte Synode des Cantons Aargau behandelte im Septem¬
ber vorigen Jahres denselben Gegenstand unter lebhaftester Theilnahme einer
zahlreichen Zuhörerschaft. Es handelte sich um den Antrag, daß im Interesse
der Wahrhaftigkeit das sogenannte apostolische Glaubensberenntniß aus der
Taufhandlung zu entfernen sei. Der Beschluß lautete allgemeiner dahin, die
Liturgie sei in freierem Geiste einer Revision zu unterwerfen. In Genf
petitionirten erst jüngst eine Anzahl Bürger für Abschaffung des apostolischen
Symbolums.

Neben diesen dogmatischen Bestrebungen laufen bekanntlich die auf eine
freiere Kirchenverfassung, auf die Wahl der Geistlichen durch das Volk der
Gemeinden, auf stärkere Vertretung des Laienstandes in den kirchlichen Be¬
hörden, ja auf gänzliche Trennung von Staat und Kirche u. s. w. Ein
Theil dieser Wünsche ist in der neuen Verfassung des Cantons Zürich, wenn
auch weniger entschieden, als die Demokraten ursprünglich hatten hoffen
lassen, in Erfüllung gegangen. Dieselbe gewährleistet die Glaubens-, Cultus-
und Lehrfreiheit und macht die bürgerlichen Rechte und Pflichten unabhängig
vom Glaubensbekenntniß; sie läßt die evangelische Landeskirche so wie die
übrigen kirchlichen Genossenschaften „ihre Cultusverhältnisse selbständig, jedoch
unter der Oberaufsicht des Staates ordnen" und behält diesem die Organi¬
sation der ersteren, jedoch mit Ausschluß jedes Gewissenszwanges, „durch
das Gesetz" vor, wofür der Staat im Allgemeinen die bisherigen Leistungen
für die kirchlichen Bedürfnisse auch fürderhin übernimmt. Die Kirchgemein¬
den wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der Wahlfähigen selbst, die Ge¬
wählten unterliegen alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl und der Staat
besoldet dieselben. Alle diese Bestimmungen gelten sowohl für die evangeli¬
schen als für die katholischen Gemeinden.

Der Canton Thurgau ahmte das benachbarte und stammverwandte
Zürich in seiner Verfassungsrevision in manchen Punkten nach, ging aber in
kirchlicher Beziehung noch weiter. Die neue Verfassung verordnet zwei Sy¬
noden, eine evangelische und eine katholische, beide gemischt aus Geistlichen
und Laien, von denen jeder die Aufgabe zugetheilt wurde, für ihre Kirche
eine neue Verfassung zu entwerfen. Diese Entwürfe sind bereits so weit ge-


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[0312] rathes verschoben, um sie der neugewählten Behörde zu endgültiger Entschei¬ dung zu überlassen. Letztere ist bis zur Stunde noch nicht erfolgt. Ungefähr gleichzeitig mit Zürich war auch im Canton Graubünden nach mehrjähriger Vorberathung dieselbe Frage in der Synode aufge¬ taucht (1866) und die freier denkenden Geistlichen hatten gegenüber dem zahm Widerstande der Rechtgläubigen wenigstens ihre eigene Freiheit und Ehrlichkeit in Betreff des apostol, Symbolums zu wahren gewußt. Auch im Canton Bern griff die nämliche Bewegung Platz, und die aus Geistlichen und Laien gemischte Synode des Cantons Aargau behandelte im Septem¬ ber vorigen Jahres denselben Gegenstand unter lebhaftester Theilnahme einer zahlreichen Zuhörerschaft. Es handelte sich um den Antrag, daß im Interesse der Wahrhaftigkeit das sogenannte apostolische Glaubensberenntniß aus der Taufhandlung zu entfernen sei. Der Beschluß lautete allgemeiner dahin, die Liturgie sei in freierem Geiste einer Revision zu unterwerfen. In Genf petitionirten erst jüngst eine Anzahl Bürger für Abschaffung des apostolischen Symbolums. Neben diesen dogmatischen Bestrebungen laufen bekanntlich die auf eine freiere Kirchenverfassung, auf die Wahl der Geistlichen durch das Volk der Gemeinden, auf stärkere Vertretung des Laienstandes in den kirchlichen Be¬ hörden, ja auf gänzliche Trennung von Staat und Kirche u. s. w. Ein Theil dieser Wünsche ist in der neuen Verfassung des Cantons Zürich, wenn auch weniger entschieden, als die Demokraten ursprünglich hatten hoffen lassen, in Erfüllung gegangen. Dieselbe gewährleistet die Glaubens-, Cultus- und Lehrfreiheit und macht die bürgerlichen Rechte und Pflichten unabhängig vom Glaubensbekenntniß; sie läßt die evangelische Landeskirche so wie die übrigen kirchlichen Genossenschaften „ihre Cultusverhältnisse selbständig, jedoch unter der Oberaufsicht des Staates ordnen" und behält diesem die Organi¬ sation der ersteren, jedoch mit Ausschluß jedes Gewissenszwanges, „durch das Gesetz" vor, wofür der Staat im Allgemeinen die bisherigen Leistungen für die kirchlichen Bedürfnisse auch fürderhin übernimmt. Die Kirchgemein¬ den wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der Wahlfähigen selbst, die Ge¬ wählten unterliegen alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl und der Staat besoldet dieselben. Alle diese Bestimmungen gelten sowohl für die evangeli¬ schen als für die katholischen Gemeinden. Der Canton Thurgau ahmte das benachbarte und stammverwandte Zürich in seiner Verfassungsrevision in manchen Punkten nach, ging aber in kirchlicher Beziehung noch weiter. Die neue Verfassung verordnet zwei Sy¬ noden, eine evangelische und eine katholische, beide gemischt aus Geistlichen und Laien, von denen jeder die Aufgabe zugetheilt wurde, für ihre Kirche eine neue Verfassung zu entwerfen. Diese Entwürfe sind bereits so weit ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/312>, abgerufen am 27.07.2024.