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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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handelte den auf unseren Bildern dargestellten Stoff, Orestes und Jphigeneia
bei den Tauriern, und, da eine andere berühmte Composition dieses Malers,
die sich zum Morde der Kinder anschickende Medeia, in der campanischen
Wandmalerei reproducirt ist, liegt es in der That nahe, auch die in Rede
stehende Composition mit Timomachos in Verbindung zu bringen. Jedoch
erweist sich diese Vermuthung bet näherer Betrachtung als nicht vollständig
stichhaltig. Zunächst stimmt die Wahl des dargestellten Moments nicht mit
dem Kunstcharakter des Timomachos. Er liebte es tief ergreifende Momente
zu schildern, bei denen das Pathos der handelnden Personen bis zum hoch'
sten Grade entwickelt und die daraus hervorgehende Katastrophe dem Geiste
des Betrachters nahe gerückt war. Ferner widerspricht ein griechisches
Epigramm, welches mit hinreichender Sicherheit auf das Bild des Timo¬
machos bezogen werden darf. Leider ist dasselbe verstümmelt. Doch zeigen
die erhaltenen Verse deutlich, daß Jphigeneia erschien, hin und her getrieben
von widersprechenden Gefühlen, von Groll, da sie Griechen erblickt, die ihr
Unglück, ihre Verbannung in das Barbarenland, verursacht haben, und von
Mitleid, da Angesichts der Jünglinge die Erinnerung an ihr Vaterland, das
heimische Argos, wach wird, ein psychologischer Vorgang, der nur eintreten
konnte unmittelbar bevor Jphigeneia ihren Bruder wiedererkennt, was selbst¬
verständlich in Abwesenheit des Thoas stattfinden mußte, und der vielfache Ver¬
wandtschaft verräth mit der von demselben Meister der Medeia gegebenen Cha¬
rakteristik, die im Conflict zwischen Mutterliebe und Rachsucht umhertreibt.
Während der Begriff, welchen wir auf diese Weise von der Composition des
Timomachos gewonnen haben, keineswegs mit den campanischen Wand¬
gemälden übereinstimmt, finden wir in der Mittelgruppe eines früher in
Venedig, gegenwärtig in Weimar befindlichen Sarkophags, alle Züge, welche
der Darstellung des Meisters eigenthümlich gewesen sein müssen. Hier steht
Jphigeneia vor den Gefangenen, die Hände über dem Schoße gefaltet, offen¬
bar heftig bewegt. Mag die Gestalt in dem Relief nur andeutend behan¬
delt sein, so erkennen wir nichtsdestoweniger die großartige Weise, in welcher
sie componirt ist und ihre Haltung stimmt mit dem Conflicte verschiedener
Empfindungen, der ihr in der Composition des Timomachos eigenthüm¬
lich war. Somit sind wir berechtigt, die Darstellung des weimarischen
Sarkophags auf Timomachos zurückzuführen und darin eine Reproduction
wenigstens der Motive seiner Composition anzunehmen. Vergleichen wir
nunmehr die Sarkophagdarstellung mit den pompeianischen Bildern, so werden
wir eine eigenthümliche Erscheinung gewahr. Beide Compositionen nämlich,
die im Großen und Ganzen von einander vollständig unabhängig sind, zeigen
die Gruppe der gefangenen Jünglinge, abgesehen von geringfügigen Modifi¬
kationen, ganz in derselben Weise componirt, dergestalt, daß hier die Abhängig-


handelte den auf unseren Bildern dargestellten Stoff, Orestes und Jphigeneia
bei den Tauriern, und, da eine andere berühmte Composition dieses Malers,
die sich zum Morde der Kinder anschickende Medeia, in der campanischen
Wandmalerei reproducirt ist, liegt es in der That nahe, auch die in Rede
stehende Composition mit Timomachos in Verbindung zu bringen. Jedoch
erweist sich diese Vermuthung bet näherer Betrachtung als nicht vollständig
stichhaltig. Zunächst stimmt die Wahl des dargestellten Moments nicht mit
dem Kunstcharakter des Timomachos. Er liebte es tief ergreifende Momente
zu schildern, bei denen das Pathos der handelnden Personen bis zum hoch'
sten Grade entwickelt und die daraus hervorgehende Katastrophe dem Geiste
des Betrachters nahe gerückt war. Ferner widerspricht ein griechisches
Epigramm, welches mit hinreichender Sicherheit auf das Bild des Timo¬
machos bezogen werden darf. Leider ist dasselbe verstümmelt. Doch zeigen
die erhaltenen Verse deutlich, daß Jphigeneia erschien, hin und her getrieben
von widersprechenden Gefühlen, von Groll, da sie Griechen erblickt, die ihr
Unglück, ihre Verbannung in das Barbarenland, verursacht haben, und von
Mitleid, da Angesichts der Jünglinge die Erinnerung an ihr Vaterland, das
heimische Argos, wach wird, ein psychologischer Vorgang, der nur eintreten
konnte unmittelbar bevor Jphigeneia ihren Bruder wiedererkennt, was selbst¬
verständlich in Abwesenheit des Thoas stattfinden mußte, und der vielfache Ver¬
wandtschaft verräth mit der von demselben Meister der Medeia gegebenen Cha¬
rakteristik, die im Conflict zwischen Mutterliebe und Rachsucht umhertreibt.
Während der Begriff, welchen wir auf diese Weise von der Composition des
Timomachos gewonnen haben, keineswegs mit den campanischen Wand¬
gemälden übereinstimmt, finden wir in der Mittelgruppe eines früher in
Venedig, gegenwärtig in Weimar befindlichen Sarkophags, alle Züge, welche
der Darstellung des Meisters eigenthümlich gewesen sein müssen. Hier steht
Jphigeneia vor den Gefangenen, die Hände über dem Schoße gefaltet, offen¬
bar heftig bewegt. Mag die Gestalt in dem Relief nur andeutend behan¬
delt sein, so erkennen wir nichtsdestoweniger die großartige Weise, in welcher
sie componirt ist und ihre Haltung stimmt mit dem Conflicte verschiedener
Empfindungen, der ihr in der Composition des Timomachos eigenthüm¬
lich war. Somit sind wir berechtigt, die Darstellung des weimarischen
Sarkophags auf Timomachos zurückzuführen und darin eine Reproduction
wenigstens der Motive seiner Composition anzunehmen. Vergleichen wir
nunmehr die Sarkophagdarstellung mit den pompeianischen Bildern, so werden
wir eine eigenthümliche Erscheinung gewahr. Beide Compositionen nämlich,
die im Großen und Ganzen von einander vollständig unabhängig sind, zeigen
die Gruppe der gefangenen Jünglinge, abgesehen von geringfügigen Modifi¬
kationen, ganz in derselben Weise componirt, dergestalt, daß hier die Abhängig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/296>, abgerufen am 01.09.2024.