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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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es auch in einzelnen Fällen vorgekommen sein, daß sorgfältig durchgeführte
Tafelbilder in den Wohnzimmern der Häuser aufbewahrt wurden, so diente
in den Häusern der Reichen, wo wir allein eine größere Menge solcher Bil¬
der zu gewärtigen haben, zu ihrer Aufbewahrung ein besonderer Raum, die
xinaovtksea. Dieser Raum wurde, wie die von Vitruv über seine Anlage
gegebenen Vorschriften bezeugen, mit dem den Alten eigenthümlichen feinen
Verständniß und praktischen Blick so eingerichtet, daß alle Vorzüge der Bil¬
der in der deutlichsten Weise zur Geltung kamen.

Während aus der bisherigen Auseinandersetzung hervorging, daß die
campanischen Wandmaler den Charakter der Tafelbilder nicht genau wieder¬
geben konnten, zeigen andere Gesichtspunkte, daß sie es sich gar nicht ange¬
legen sein ließen, ein bestimmtes Vorbild in allen einzelnen Motiven zu
reproduciren. Es steht ein für alle Male fest, daß wir in den campanischen
Wandgemälden keine genauen Copien zu erwarten haben. Von Durchzeich¬
nen oder Schabloniren war keine Rede. Nur in ganz vereinzelten Fällen
gingen die Wandmaler von der Zeichnung eines Umrisses aus; gewöhnlich
wurden zum Zwecke der Raumeintheilung wenige Linien aus den Stuck¬
grund eingeritzt, welche skelettartig die Haltung der Figuren und die Stellung
ihrer Glieder andeuteten, und über diese Linien sofort mit dem vollen Pinsel
gearbeitet. Nehmen wir selbst an, daß der Wandmaler ein Vorlegeblatt
benutzte, so mußten sich bei dieser Art des Machwerks nothwendiger Weise
Abweichungen ergeben und haben wir im günstigsten Falle zu gewärtigen,
daß die Motive der Originalcomposition ganz im Allgemeinen wiedergegeben
wurden. Jedenfalls war es sehr schwierig, die Nuancen der psychologischen
Entwickelung der Gesichter in einer genau dem Original entsprechenden
Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch in dieser Hinsicht konnten die Wand¬
maler im günstigsten Falle nur das Allerwesentlichste wiedergeben. Besaß ferner
der ausführende Wandmaler eine gewisse Frische der Auffassung und Keckheit
der Hand, dann konnte es nicht ausbleiben, daß er zu improvistren anfing
und somit das zu Grunde liegende Motiv weitere Abwandlungen erfuhr.
Es ist interessant, auf diesen Gesichtspunkt hin die in mehreren Repliken ver¬
tretenen Bilder zu vergleichen, wie die Gemälde, welche Narkissos an
der Quelle sitzend, Ariadne verlassen auf Naxos, Adonis in Liebesvereinigung
mit Aphrodite oder verwundet darstellen. Kein Bild stimmt mit einem andern
derselben Serie angehörigen vollständig überein; allerdings klingt allenthalben
das Grundmotiv durch; dagegen gewahren wir in Einzelheiten, namentlich
in der Stellung der Extremitäten, mehr oder minder bedeutende Abwand¬
lungen. Wir empfangen angesichts dieser Bilderserien den Eindruck der
Variationen eines Themas. Die gleichzeitige Dichtkunst bietet uns verwandte
Erscheinungen. Vor allen läßt sich das griechische Epigramm vergleichen.


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es auch in einzelnen Fällen vorgekommen sein, daß sorgfältig durchgeführte
Tafelbilder in den Wohnzimmern der Häuser aufbewahrt wurden, so diente
in den Häusern der Reichen, wo wir allein eine größere Menge solcher Bil¬
der zu gewärtigen haben, zu ihrer Aufbewahrung ein besonderer Raum, die
xinaovtksea. Dieser Raum wurde, wie die von Vitruv über seine Anlage
gegebenen Vorschriften bezeugen, mit dem den Alten eigenthümlichen feinen
Verständniß und praktischen Blick so eingerichtet, daß alle Vorzüge der Bil¬
der in der deutlichsten Weise zur Geltung kamen.

Während aus der bisherigen Auseinandersetzung hervorging, daß die
campanischen Wandmaler den Charakter der Tafelbilder nicht genau wieder¬
geben konnten, zeigen andere Gesichtspunkte, daß sie es sich gar nicht ange¬
legen sein ließen, ein bestimmtes Vorbild in allen einzelnen Motiven zu
reproduciren. Es steht ein für alle Male fest, daß wir in den campanischen
Wandgemälden keine genauen Copien zu erwarten haben. Von Durchzeich¬
nen oder Schabloniren war keine Rede. Nur in ganz vereinzelten Fällen
gingen die Wandmaler von der Zeichnung eines Umrisses aus; gewöhnlich
wurden zum Zwecke der Raumeintheilung wenige Linien aus den Stuck¬
grund eingeritzt, welche skelettartig die Haltung der Figuren und die Stellung
ihrer Glieder andeuteten, und über diese Linien sofort mit dem vollen Pinsel
gearbeitet. Nehmen wir selbst an, daß der Wandmaler ein Vorlegeblatt
benutzte, so mußten sich bei dieser Art des Machwerks nothwendiger Weise
Abweichungen ergeben und haben wir im günstigsten Falle zu gewärtigen,
daß die Motive der Originalcomposition ganz im Allgemeinen wiedergegeben
wurden. Jedenfalls war es sehr schwierig, die Nuancen der psychologischen
Entwickelung der Gesichter in einer genau dem Original entsprechenden
Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch in dieser Hinsicht konnten die Wand¬
maler im günstigsten Falle nur das Allerwesentlichste wiedergeben. Besaß ferner
der ausführende Wandmaler eine gewisse Frische der Auffassung und Keckheit
der Hand, dann konnte es nicht ausbleiben, daß er zu improvistren anfing
und somit das zu Grunde liegende Motiv weitere Abwandlungen erfuhr.
Es ist interessant, auf diesen Gesichtspunkt hin die in mehreren Repliken ver¬
tretenen Bilder zu vergleichen, wie die Gemälde, welche Narkissos an
der Quelle sitzend, Ariadne verlassen auf Naxos, Adonis in Liebesvereinigung
mit Aphrodite oder verwundet darstellen. Kein Bild stimmt mit einem andern
derselben Serie angehörigen vollständig überein; allerdings klingt allenthalben
das Grundmotiv durch; dagegen gewahren wir in Einzelheiten, namentlich
in der Stellung der Extremitäten, mehr oder minder bedeutende Abwand¬
lungen. Wir empfangen angesichts dieser Bilderserien den Eindruck der
Variationen eines Themas. Die gleichzeitige Dichtkunst bietet uns verwandte
Erscheinungen. Vor allen läßt sich das griechische Epigramm vergleichen.


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[0292] 286 es auch in einzelnen Fällen vorgekommen sein, daß sorgfältig durchgeführte Tafelbilder in den Wohnzimmern der Häuser aufbewahrt wurden, so diente in den Häusern der Reichen, wo wir allein eine größere Menge solcher Bil¬ der zu gewärtigen haben, zu ihrer Aufbewahrung ein besonderer Raum, die xinaovtksea. Dieser Raum wurde, wie die von Vitruv über seine Anlage gegebenen Vorschriften bezeugen, mit dem den Alten eigenthümlichen feinen Verständniß und praktischen Blick so eingerichtet, daß alle Vorzüge der Bil¬ der in der deutlichsten Weise zur Geltung kamen. Während aus der bisherigen Auseinandersetzung hervorging, daß die campanischen Wandmaler den Charakter der Tafelbilder nicht genau wieder¬ geben konnten, zeigen andere Gesichtspunkte, daß sie es sich gar nicht ange¬ legen sein ließen, ein bestimmtes Vorbild in allen einzelnen Motiven zu reproduciren. Es steht ein für alle Male fest, daß wir in den campanischen Wandgemälden keine genauen Copien zu erwarten haben. Von Durchzeich¬ nen oder Schabloniren war keine Rede. Nur in ganz vereinzelten Fällen gingen die Wandmaler von der Zeichnung eines Umrisses aus; gewöhnlich wurden zum Zwecke der Raumeintheilung wenige Linien aus den Stuck¬ grund eingeritzt, welche skelettartig die Haltung der Figuren und die Stellung ihrer Glieder andeuteten, und über diese Linien sofort mit dem vollen Pinsel gearbeitet. Nehmen wir selbst an, daß der Wandmaler ein Vorlegeblatt benutzte, so mußten sich bei dieser Art des Machwerks nothwendiger Weise Abweichungen ergeben und haben wir im günstigsten Falle zu gewärtigen, daß die Motive der Originalcomposition ganz im Allgemeinen wiedergegeben wurden. Jedenfalls war es sehr schwierig, die Nuancen der psychologischen Entwickelung der Gesichter in einer genau dem Original entsprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch in dieser Hinsicht konnten die Wand¬ maler im günstigsten Falle nur das Allerwesentlichste wiedergeben. Besaß ferner der ausführende Wandmaler eine gewisse Frische der Auffassung und Keckheit der Hand, dann konnte es nicht ausbleiben, daß er zu improvistren anfing und somit das zu Grunde liegende Motiv weitere Abwandlungen erfuhr. Es ist interessant, auf diesen Gesichtspunkt hin die in mehreren Repliken ver¬ tretenen Bilder zu vergleichen, wie die Gemälde, welche Narkissos an der Quelle sitzend, Ariadne verlassen auf Naxos, Adonis in Liebesvereinigung mit Aphrodite oder verwundet darstellen. Kein Bild stimmt mit einem andern derselben Serie angehörigen vollständig überein; allerdings klingt allenthalben das Grundmotiv durch; dagegen gewahren wir in Einzelheiten, namentlich in der Stellung der Extremitäten, mehr oder minder bedeutende Abwand¬ lungen. Wir empfangen angesichts dieser Bilderserien den Eindruck der Variationen eines Themas. Die gleichzeitige Dichtkunst bietet uns verwandte Erscheinungen. Vor allen läßt sich das griechische Epigramm vergleichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/292>, abgerufen am 01.09.2024.